Erfüllte Zeit

26. 11. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Dorothee Sölle „Gewöhnen will ich mich nicht“, hrsg. von Bärbel Wartenberg-Potter, Herder spektrum

 

 

Im Evangelium steht die Geschichte von dem reichen Jüngling, der scheinbar die Fülle des Lebens in Gestalt vieler Güter besitzt und der doch von der inneren Leere seines Lebens eingeholt wird. Es geht ihm gut. Er hat, was er braucht, und noch viel mehr. Aber er fragt über dieses Haben und Zufriedensein hinaus: Was soll ich tun mit meinem Leben? Er sagt: „Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Dann komm und folge mir nach. So wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Mk 10, 21).

 

Viele Menschen in der Mittelklasse sind heute auf der Suche nach einer neuen Spiritualität. Sie wollen zu dem, was sie schon haben, Ausbildung und Beruf, Erziehung und gesichertes Einkommen, Familie und Freunde, noch etwas mehr haben. Die religiöse Erfüllung, der Sinn des Lebens, die Speise der Seele, der Trost – das alles soll zusätzlich zur materiellen Sicherheit noch dazukommen. Eine Art religiöser Mehrwert für die, die eh schon überprivilegiert sind. Sie suchen die geistliche Fülle des Lebens zusätzlich zur materiellen, den Segen von oben zusätzlich zum Reichtum.

 

Aber Jesus weist diese fromme Mittelklassenhoffnung zurück. Die Fülle des Lebens kommt nicht, wenn du schon alles hast. Wir müssen erst leer werden für Gottes Fülle. Gib das weg, was du hast, gib es den Armen, dann hast du gefunden, was du suchst. Die Geschichte vom reichen Jüngling endet in Trauer. Trauer bei dem jungen Mann, denn er ist sehr reich und geht davon.

 

Jesus hat versucht, dem reichen jungen Mann den Bruch mit der eigenen Welt, mit ihren Anschauungen und Werten und mit der eigenen sozialen Klasse der Privilegierten nahe zu legen. Christus stellt uns vor die gleiche Frage: Wie lange werden wir noch in der Ausbeutungs- und Unterdrückungsordnung dieser Welt mitmachen, Nutznießer und Komplizen des Systems sein, das beherrscht ist von dem „Dieb, der kommt, um zu stehlen, zu töten und zu verderben“?

 

Viele Christen meinen, Gewaltfreiheit sei nur im Reich Gottes möglich, auf Erden seien Krieg und Armut gegeben. Aber wer so denkt, trennt Gott von seinem Reich und wünscht sich, wie der reiche Jüngling, ein ewiges Leben ohne die Gerechtigkeit und eine Fülle des Lebens ohne die Liebe. Das ist ein Unding. Der Reichtum des Menschen liegt in seinen Beziehungen zu anderen, in seinem Dasein-für-andere. Die Fülle des Lebens wird nicht weniger, wenn wir sie miteinander teilen, sondern sie vermehrt sich so wunderbar wie fünf Brote und zwei Fische sich vermehrten.