Erfüllte Zeit

24. 12. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Besuch Marias bei Elisabeth“ (Lukas 1, 39 - 45)

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

Vor mir auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Karte. Sie ist gefaltet. Auf der Vorderseite sind einige Daten zu lesen, darüber groß geschrieben ein Name und daneben ein Fußabdruck. Eine Geburtsanzeige. Und zugleich eine Todesanzeige. Denn Leon ist zwei Tage nach seiner verfrühten Geburt gestorben. Er war ein bisschen älter als das Kind im Leib Elisabeths, von dessen Freudensprüngen gerade im Evangelium die Rede war. Von Leon ist diese Spur auf der Karte geblieben, und eine Spur im Herzen und in den Gedanken seiner Eltern und anderer, die auf sein Kommen gewartet haben. Die Spur einer Liebe, die sich zurückverfolgen lässt bis zu dem kleinen Wesen, diesem Kind, das ich nie gesehen habe, nie sehen werde. Eine Spur, die sich weiter zurückverfolgen lässt, viel weiter zurück durch die Herzen und Gedanken der Menschen von Generation zu Generation, durch die Jahrhunderte und Räume hindurch bis zu jenen beiden Frauen, von denen im Evangelium die Rede war. Die Spur der Liebe zu dem, was im Verborgenen wächst, nicht sichtbar und doch gegenwärtig. Das Kind im Leib der Mutter, in dem eine neue Welt zur Entfaltung kommt. Das Kind in mir selber, das hellsichtig ist und hellhörig, begabt mit der Fähigkeit zu immer neuem Anfang. Das Kind in mir, das zarte, schutzlose, verwundbare, das gerade so der Anfang von Neuem ist.

 

Die Spur der Liebe zu dieser stillen Wirklichkeit führt zurück bis zu jener Stadt im Bergland von Judäa, bis zu jenem Haus, wo Elisabeth und Maria einander begegnet sind. Beide bergen mit den Kindern in ihrem Leib auch große Verheißungen. Zacharias, dem Mann der Elisabeth, einem Priester, war beim Dienst im Tempel der Engel Gabriel erschienen. Er verkündete dem alten Mann, dass er und seine betagte Frau noch ein Kind empfangen würden. Sie beide, die bisher kinderlos geblieben waren und vergeblich ein Kind herbeigesehnt hatten, sollten Eltern werden. Gerade jetzt, da in ihrem Alter die Hoffnung auf ein Kind aussichtslos schien. Und das Kind sollte Großes vollbringen. Ja, es sollte groß sein vor Gott und das Volk Israel auf das Kommen Gottes vorbereiten.

 

Zacharias hatte seine Begegnung mit dem Engel im Tempel, am offiziellen Ort der Gegenwart Gottes. Maria dagegen ist im Privaten, der Engel Gabriel kommt zu ihr ins Private. Während Elisabeth und Zacharias die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches angekündigt wird, während sie etwas Erbetenes erhalten, nun doch noch, nachdem alles bereits vergeblich schien, wird Maria an den Rand der Fassungslosigkeit gestellt. Sie hat das Angekündigte weder gewünscht noch erbeten. Was hätte es auch hier zu wünschen gegeben? Was soll es heißen, ein Kind vom Heiligen Geist zu empfangen, ein Kind, das Sohn Gottes genannt werden wird? Maria hat sich dem Wort des Engels anvertraut. Sie hat dem Neuen, das jenseits aller Wünsche war, das so unscheinbar und zart und verwundbar ins Leben trat, Raum geschenkt in ihrem Leib.

 

Und dann kam es zu der Begegnung der beiden Frauen. Als erstes ist es das Kind im Leib Elisabeths, das die Gegenwart des Neuen erkennt. Elisabeth hört auf das Kind in ihr, sie weiß seine Zeichen zu deuten. So beginnt der Weg Gottes mit diesen Menschen von neuem im Unscheinbaren und Zarten. Und so hat er seitdem immer begonnen. Gott kommt aus dem Kleinen, dem Verwundbaren, dem Ausgelieferten entgegen. So sucht er die Liebe. Und die Spur dieser Suche, die Spur dieser Liebe zieht sich durch die Jahrhunderte bis zum Fußabdruck, den unscheinbaren Spuren des kleinen Leon. Der Tod, ungewünscht und nicht erbeten, scheint alles zu löschen, alles zu vernichten. Der Tod des Kindes, der Tod von Johannes, der Tod Jesu. Doch die Spur der Liebe geht weiter. Sie führt in ein Land jenseits von Wunsch und Bitte. In ein Land, wo dem Neuen, das zart und verwundbar ins Leben tritt, Raum geschenkt wird. Jenseits von Wunsch und Bitte.