Erfüllte Zeit

26. 12. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis“ (Matthäus 10,17 – 22)

von Ingeborg Gabriel

 

 

Ich habe das Evangelium dieses zweiten Weihnachtsfeiertags immer als eine Zumutung empfunden. Allzu abrupt, ja brutal scheint der Wechsel von der innigen, ja erhabenen Weihnachtsstimmung der vergangenen Tage. In der Heiligen Nacht sangen die Engel und verkündigten den Hirten und allen Menschen guten Willens den Frieden. Doch wo ist nun dieser verheißene Friede Gottes? Wie passen die Weihnachtsgeschichte und der eben gehörte Text über die Verfolgung der Jünger, über Spaltungen und Spannungen, die der Glaube selbst in die Familien hineinträgt, zusammen? Das heutige Evangelium konfrontiert uns nicht mit einer Welt nicht des Friedens, sondern abgründiger Bosheit. Denen, die Gutes tun, widerfährt offenbar keineswegs immer selbst Gutes.

 

Die Lesung aus der Apostelgeschichte handelt am heutigen Stephanitag von der Steinigung des Stephanus, dem ersten Märtyrer der jungen Kirche. Lukas berichtet dort, dass die vielen karitativen Aufgaben der Gemeinde von Jerusalem die Apostel überforderten. Sie schlugen daher vor, sieben Männer „für den Dienst an den Tischen“ auszuwählen, die von ihnen dann geweiht wurden. Der erstgenannte ist Stephanus, einer der griechischen Heidenchristen. Stephanus setzte sich „voll Gnade und Kraft“ sowohl für den neuen Glauben als auch für die Armen der Gemeinde ein. Dies brachte ihm jedoch keineswegs nur Anerkennung ein, sondern auch Neid und Hass. Er wird vor Gericht gestellt, von falschen Zeugen verleumdet und nach einer grandiosen Verteidigungsrede vom Mob vor die Stadt gezerrt und gelyncht. Ein junger Mann namens Saulus sah bei der Steinigung des Stephanus zu und billigte sie. Die junge Kirche hat die Diakonie bzw. Karitas, also den Dienst am Nächsten, von Anfang an ebenso ernst genommen, wie die Liturgie, den Gottesdienst. Eines kann aus christlicher Sicht vom anderen nicht getrennt werden. Das christliche Zeugnis bis hin zum Martyrium zeigt sich in Wort und Tat, in Verkündigung und im Dienst am anderen, sei es innerhalb und außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft. Dies ist die unausweichliche Konsequenz des Bekenntnisses zur Menschwerdung Gottes, die wir zu Weihnachten feiern. Wenn Gott selbst Mensch geworden ist, dann ist jeder Mensch, eben weil er Mensch ist, kostbar. Dann zeigt sich in jedem Menschen, auch im Einfachsten und Geringsten, etwas vom Geheimnis Gottes selbst. Die Achtung gegenüber dem Mitmenschen und der Dienst an ihm, ist so „Gott selbst getan“. Das Wort „Dienst“ hat heute keinen guten Klang. Wer will schon andere bedienen? Vor allem für Frauen, die allzu oft als „dienstbare Geister“ ge- und missbraucht wurden, hat es einen bitteren Beigeschmack.

 

Doch gilt nicht auch, dass wir uns alle nach einem Zusammenleben sehnen, in dem der „eine den anderen höher schätzt als sich selbst“ (Phil 2,3), ihn bedient, und nicht zuerst sich und seinen Vorteil sucht? Sehnen wir uns nicht nach einer Welt, in der den Armen und Hilflosen, die aus welchen Gründen immer in Not sind, effektiv geholfen wird? In der nicht – wie in den Tagen vor Weihnachten in der Zeitung zu lesen war - rumänische Eltern ihre Kinder verkaufen müssen, und der Menschenhandel in Europa zunimmt? Wäre Weihnachten nicht die Zeit zu überlegen, was jeder konkret dazu beitragen kann, damit mehr Menschlichkeit und Friede in unsere Welt einkehren? Die Geschichte des Stephanus zeigt freilich auch, dass das Engagement für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden nicht gefahrlos ist. Dies gilt im Großen wie im Kleinen. Güte wird nicht immer belohnt und der Einsatz für mehr Gerechtigkeit kann Aggressionen wecken, die bis zum Mord gehen können. Auch dies galt damals wie heute. Es gibt nicht nur die Menschen guten Willens, sondern auch jene finsteren Willens. Die Menschwerdung Gottes geschieht in eine Welt hinein, in der das „Geheimnis der Bosheit“ wirksam ist. Doch im Martyrium des hl. Stephanus wurde auch jene Kraft und Gnade sichtbar, die zur Bekehrung des Paulus, des späteren Völkerapostels, führte. Dies ist nochmals ein Grund zur Hoffnung.