Erfüllte Zeit

28. 01. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Abbé Pierre

 

 

Ich denke an den Tod in aller Heiterkeit. Ich hatte die Gewohnheit angenommen, bei einem sterbenden Freund das „Gegrüßet seist Du, Maria“ nicht mit den Worten „jetzt und in der Stunde unseres Todes“, sondern mit  „jetzt und in der Stunde der Begegnung“ zu beenden. Das erzählte ich einem Journalisten, worauf ich den empörten Brief eines alten Priesters, der diesen Artikel gelesen hatte, erhielt: „Welche Frechheit, es zu wagen, von einer Begegnung zu sprechen! Als wüssten Sie genau, dass das gut geht.“ Ich hätte ihm antworten sollen: „Ob gut oder schlecht, jedenfalls bleibt es eine Begegnung!“ Als Lebende fühlen wir uns wie in Schatten gehüllt. Wir wollen wissen, wir wollen lieben, wir wollen, wir wollen – und dabei stoßen wir ständig an unsere Grenzen. Nach dem Tod befinden wir uns in dem, was ich das „Immer-im-Jenseits-der-Zeit-sein“ nennen möchte.

 

Jetzt glaube ich, dass Sie meine Ungeduld verstehen. Obwohl ich manches bedauere und bereue, habe ich keine Angst vor dem Sterben. Als mein Schiff am Rio de la Plata versank, ließ ich mich vom ersten Augenblick an im Wasser treiben wie ein Kind. Ich war heiter und gelassen und nur von einem Gedanken erfüllt: Wenn man seine eine Hand in die eines Armen gelegt hat, dann fühlt man Gottes Hand in seiner anderen. Seit damals weiß ich, dass der Tod ein lange aufgeschobenes Rendezvous mit einem Freund ist und dass er die Erwartung bedeutet, die durch Erfüllung belohnt wird.

 

 

(Aus: Abbé Pierre „Mein Testament“, Pattloch Verlag; übersetzt von Madeleine Windisch-Graetz)