Erfüllte Zeit

11. 02. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Andrang des Volkes“ (Lukas 6, 17. 20 – 26)

von Pfarrer Roland Schwarz

 

 

"Selig, ihr Armen! Selig, die ihr jetzt hungert!" - Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; aber heute fällt es mir schwer, die Worte Jesu konkret auf uns zu beziehen. Denn trotz der Sparpolitik in vielen Bereichen, trotz Arbeitslosigkeit, trotz steigender Armutsgefährdung - kann jemand von uns angesichts der globalen Armut sich wirklich als Armer und Hungriger fühlen?

 

Doch ich denke, wir müssen hinterfragen, ob Jesus die Armen wirklich wegen ihrer Armut an sich glücklich nennt und ob er die Reichen deshalb zurechtweist, weil sie satt sind und lachen. Wird nicht gerade das Satt-Sein in der Bibel oft als Geschenk Gottes gerühmt und ist nicht die Botschaft Jesu eine gute, frohe Nachricht, die uns durchaus auch etwas zu lachen gibt?

 

Es geht tatsächlich um etwas Anderes. Jesus wendet sich deshalb in aller Schärfe gegen die Reichen, weil sie auf Kosten anderer satt geworden sind. Sie lachen nicht, weil sie berechtigten Grund zur Freude haben, sondern weil sie andere ausgetrickst, übervorteilt haben.

 

Im Kontrast dazu stehen jene, die weinen, weil sie hungrig sind. Da sie nichts haben, sind sie nicht in Gefahr, etwas auf Kosten anderer zu besitzen. Jesus meint mit diesen Weinenden nicht nur Arme und Hungrige. Er meint alle, die nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind; er meint auch jede und jeden von uns, wenn sich von heute auf morgen ein Freund verabschiedet hat; wenn jemand einen Menschen durch Tod verloren hat; wenn der Arzt eine schwere Krankheit diagnostiziert hat; wenn der Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde.

Doch: Welchen Trost hat Jesus anzubieten?

 

Er sagt zunächst, dass Gott eindeutig schon jetzt auf Seiten der Leidenden steht. Ihnen gehört bereits das Reich Gottes. Jesus hat vor allem durch seine Heilungen versucht, möglichst viel an Leid ganz konkret zu lindern und das passiert auch heute, wenn Menschen anderen helfen. Doch der Bibeltext weiß auch darum, dass erst in der ewigen Heimat bei Gott alle Sorgen beseitigt sein werden. "Euer Lohn im Himmel wird groß sein", sagt Jesus.

 

Nun wäre es angenehm, bei diesen aufbauenden Gedanken stehen zu bleiben. Doch wir müssen ehrlicherweise auch die Frage stellen, ob in uns nicht auch etwas von den Reichen, Satten, Lachenden und mit falschen Komplimenten Überhäuften steckt. Leben nicht auch wir auf Kosten anderer? Das Übervorteilen anderer fängt ja nicht erst dort an, wo wir jemanden in finanziellen Belangen bewusst schädigen. Es beginnt schon, wenn ich in der Familie meine Position, meine Stärken ständig ausnütze, um mir Vorteile zu sichern.

 

Wir müssen uns auch die Frage unserer sozialen Verantwortung gegenüber den materiell am Rand Stehenden stellen, sowohl in der Weltbevölkerung als auch in der eigenen Gesellschaft. Jesus hat am Beginn seiner Rede ja nicht jene gelobt, die regelmäßig beten und sich an alle religiösen Vorschriften halten. Gnade und Verdammnis entscheiden sich für ihn primär an der Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen. Dementsprechend liegt es an uns allen, darüber nachzudenken, inwiefern wir in wirtschaftlichen Strukturen leben, die ärmere Völker benachteiligen. Dies kann durch den Raubbau an ihren Bodenschätzen geschehen, durch eine Politik der Abhängigkeit von unseren Technologien, durch Ausbeutung billigster Arbeitskräfte. Kaum jemand hat genügend Einfluss, um hier als Einzelner etwas verändern zu können, aber durch gemeinsame Aktionen – etwa eine Selbstbesteuerung zugunsten ganz konkreter Projekte oder den Erwerb ethisch sauberer Aktien  - könnte vieles erreicht werden.

 

Trotz allem: Es geht im heutigen Evangelium nicht darum, dass sich niemand mehr für den ehrlich erarbeiteten Euro auch einmal etwas gönnen darf. Gerade Lukas zeigt in seinem Evangelium den materiell gut gestellten Gemeindemitgliedern Möglichkeiten, auch mit einem gewissen Besitz authentisch Christ sein zu können. Es geht um ein großzügiges, nicht exakt zu berechnendes Teilen aus dem Bewusstsein heraus, dass Gott uns nach einem Wort Jesu mit jenem Maß zuteilen wird, nach dem wir anderen gegeben haben (Lk 6,38).