Erfüllte Zeit

18. 02. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Von der Vergeltung und von der Liebe zu den Feinden“

(Lukas 6, 27 – 38)

von Univ. Prof. Wolfgang Langer

 


Wie Keulenschläge treffen uns die Worte Jesu: „Liebt eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen! Segnet die, die euch verfolgen!“ – „Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halte auch die andere hin!“ – „Gib jedem, der dich bittet, und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück!“ – „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden.“

 

Jeder, der weiß, wie es in der Welt zugeht, wird sich gegen solche Zumutungen zur Wehr setzen: So kann man nicht leben. Nicht nur, dass der Einzelne damit heillos überfordert ist. Die ganze Ordnung der Gesellschaft gerät aus den Fugen, wenn es keine Unterscheidung zwischen Freund und Feind mehr gibt. Wenn jeder ungerechte Angriff wehrlos hingenommen werden muss und weitere sogar noch provoziert werden sollen („die andere Wange hinhalten“). Immer nur geben und nicht einmal Geraubtes zurückfordern dürfen: Das spricht allem Gerechtigkeitsempfinden Hohn. Und Gerechtigkeit, d.h. die Anerkennung dessen, dass jedem das Seine gebührt und dass er notfalls seine Rechte auch verteidigen darf, ist doch die Basis für jede lebensfähige Gemeinschaft. Und wie soll ein Staat ohne Rechtsprechung bestehen, ohne richterliches Urteil und die Bestrafung von Rechtsbrechern?

 

Hat Jesus das nicht gewusst? Hat er seine Jünger zu weltfremden, lebensunfähigen Phantasten machen wollen? Der Schüsselsatz steht in der Mitte des heutigen Evangeliums: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ Ein ungeheuerlicher Satz! Gott als Beispiel, als Vorbild für menschliches Verhalten? Wie Gott sein wollen: Ist das nicht der absolute Höhepunkt menschlicher Hybris? Und ihn nachahmen sollen: Ist das nicht eine Forderung, die alle Möglichkeiten und jedes Maß des Menschen unendlich übersteigt?

 

Der Gott, von dem Jesus hier spricht, ist eben gerade nicht der Allmächtige, sondern der „barmherzige Vater“, der allen seinen Geschöpfen und vor allen den Menschen in unverdienter und unverbrüchlicher Liebe zugewandt ist. Ohne Unterschied allen, „denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten“ (Mt 5, 45). Gott, wie Jesus ihn sieht, verzichtet auf seine absolute Herrschaft und auf eine unwiderrufliche Scheidung von Guten und Bösen schon hier und jetzt. Wer sich so unbedingt von Gott geliebt weiß – das ist es, was Jesus meint – der wird dafür danken. Nicht mit bloßen Worten, sondern indem er sich bemüht, etwas von solcher Liebe in den Beziehungen zu den Menschen, mit denen er zu tun hat, erfahrbar zu machen, Wirklichkeit werden zu lassen. Er muss sich nicht rächen, sondern kann verzeihen. Er muss nicht auf seinem Recht beharren, sondern kann verzichten. Er kann geben, ohne zu erwarten, dass ihm zurückgegeben wird. Darin erweist er sich erst als „Sohn des Höchsten“ – und sie als Tochter Gottes.

 

Das wird immer im Widerspruch stehen zu den in unserer Welt geübten und anerkannten Gepflogenheiten des Umgangs miteinander. Und es wird immer nur unvollkommen, bruchstückhaft gelingen. Und es wird auch immer wieder am „alten Menschen“, der wir sind und bleiben, scheitern. Aber es ist den steten Versuch wert. Denn es könnte die Welt verwandeln – zumindest die kleine Welt, in der ich tagtäglich lebe.