Erfüllte Zeit

15. 04. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Beauftragung der Jünger“ (Johannes 20, 19 – 31)

von Dr. Helga Kohler-Spiegel

 

 

Wir sind beim ursprünglichen Ende des Johannes-Evangeliums, drei Aspekte sind im heutigen Abschnitt verbunden: die Begegnung Jesu mit den Jüngern, die Begegnung mit Thomas und ein Schlusswort.

 

Zum ersten Abschnitt: Die Jünger wissen von Maria Magdalena, der ersten Zeugin der Auferstehung, dass Jesus lebt. Doch ihr Wissen hat keine Konsequenzen, sie fühlen sich alleingelassen, sie haben sich dort, „wo sie waren“, eingeschlossen. Aus Angst vor Verfolgung haben sie sich eingeschlossen, es erinnert auch an die Worte Jesu, dass wir „in der Welt“ Angst haben. Und sie bleiben dort, „wo sie waren“ – in Kindertagen habe ich das oft gehört: Wenn du (in einer Menschenmenge, auf einem Jahrmarkt oder sonst wo) verloren gehst, dann bleibst du dort stehen, wo du bist, wo du uns verloren hast. Du bleibst einfach dort, wir werden dich wieder finden. Hier im Johannesevangelium haben sich die Jünger dort eingeschlossen, wo sie waren - bevor sie Jesus verloren haben. Nun – es ist tröstlich, wie damals als Kind – sie werden mich finden, wenn ich verloren gehe. Die Jünger gehen nicht verloren, Jesus findet sie, trotz der verschlossenen Türen kommt er in ihre Mitte. In dieser Szene wird anschaulich, was unanschaulich bleibt: Der Auferstandene ist mitten unter ihnen, er ist mitten unter uns.

 

Drei Handlungen des Auferstandenen werden genannt:

Erstens: Er wünscht, er schenkt Frieden – am Beginn seines Lebens, zu Weihnachten, hieß es: „Friede den Menschen auf Erden“, sein Zuspruch nach der Ermordung durch die gewalttätige Welt heißt ebenso: „Friede - mit euch, keine Angst“.

Zweitens: Er zeigt die Wunden. Das Kreuz ist ja ursprünglich kein religiöses Symbol, sondern ein reales Zeichen für Herrschaft und Gewalt, für Folter und ein elendes und grausames Sterben. Jesus zeigt die Wunden, die Realität von Gewalt und Ermordung – und sagt zugleich: Frieden.

 

Und – drittens: Nun soll die Begegnung mit Jesus Konsequenzen haben für die Jünger: sie sollen handeln und reden wie Jesus, sie sind gesandt, die Frohe Botschaft zu verkünden, indem sie vergeben und versöhnen. Es sind im Johannesevangelium nicht bestimmte Jüngerinnen oder Jünger, sondern alle sind beauftragt: „Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert." Der Auftrag ist klar: „Vergeben!! Ihr müsst nun die Zuwendung, die Jesus gelebt hat, selbst weiterleben.“

 

Wie am Beginn der Schöpfung Gott dem Menschen den Lebensatem einhauchte, so haucht Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern die Vollmacht ein, in seinem Geist, im Geist Gottes zu leben und handeln - wie Jesus. Das meint ja „Nachfolge“. Und dann ist klar: Wem wir vergeben, dem ist vergeben, wem wir nicht vergeben, dem ist nicht vergeben. Es heißt: Wenn ihr nicht vergebt, dann tut es niemand anderer, dann ist sie verweigert. Wir richten einander auf – oder nicht. Wir heilen einander – oder nicht, wir wenden uns einander zu – oder nicht, wir vergeben einander – oder nicht. So einfach ist das. Es liegt an uns.

 

Ein alter Text, dessen genaue Entstehung unbekannt ist, drückt diesen Auftrag in anderen Worten aus:

 

Christus hat keine Hände,

nur unsere Hände,

um seine Arbeit heute zu tun.

Er hat keine Füße, nur unsere Füße,

um Menschen auf seinen Weg zu führen.

Christus hat keine Lippen,

nur unsere Lippen,

um Menschen von ihm zu erzählen.

Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,

um Menschen seinen Weg zu zeigen.

 

Wir sind die Bibel,

die die Öffentlichkeit liest.

Wir sind Gottes Botschaft,

in Taten und Worten geschrieben.

 

Und wenn die Schrift gefälscht ist,

nicht gelesen werden kann?

Wenn unsere Hände mit anderen Dingen

beschäftigt sind?

Wenn unsere Füße andere Wege gehen?

Wenn wir nicht so leben, wie Jesus gelebt hat?

 

Und dann – eine weitere Szene. Die Begegnung mit Thomas ist nur im Johannesevangelium überliefert. Thomas will seine eigenen Erfahrungen machen, er glaubt nicht einfach, nur weil andere es sagen, er glaubt nicht nur vom Hörensagen. Thomas, einer der Zwölf, hat – so könnten wir vielleicht sagen – Mühe mit dem Glauben. Er möchte sehen, er möchte berühren und berührt sein. Und dann – wieder tritt Jesus in die Mitte, wieder sagt er: Friede, keine Angst. Fast scheint es, als käme Jesus nur für Thomas nochmals in die Mitte der Jünger und Jüngerinnen. Jesus fordert Thomas auf, seine Wunden zu berühren. Er fordert Thomas auf, die „Finger auf die Wunden“ zu legen, den Schmerz und die Verletzung zu spüren. Und Thomas wagt es. Es ist nicht leicht, sich dem Leid, der Verzweiflung, der Angst und dem Schmerz eines anderen zu stellen, zu berühren. Vielleicht kennen Sie das, einem Menschen so nahe kommen zu dürfen, dass Sie seine Wunden nicht nur kennen, sondern sogar berühren dürfen. Und vielleicht kennen Sie das auch, dass Ihnen ein Mensch so nahe steht, dass die andere Person Ihre Wunden berührt.

 

Vielleicht fällt es uns so schwer zu glauben, weil wir Angst haben vor der Berührung. Vielleicht fällt es uns so schwer, Jesus zu berühren und zu glauben, weil wir die Wunden nicht berühren wollen – die von anderen Menschen und unsere eigenen. Das Bekenntnis des Thomas wurzelt in dieser Erfahrung, wenn wir berührt sind, machen wir meist nicht viele Worte. Glaube aus dem Inneren ist vielleicht sprachlich so karg wie das Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott“. Aber es ist ein Glaube "auf Augenhöhe" mit dem Leid, es ist ein Glaube, der sich die Finger schmutzig macht und sie in die Wunden legt.