Erfüllte Zeit

06. 05. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das neue Gebot“

(Joh 13, 31 - 33a. 34 – 35)

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

„Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht“ – das klingt großartig. Nach Durchbruch, Erfolg, Anerkennung, Aufstieg. Ein Aufstieg ist es auch gewesen, allerdings am Kreuz. Ein Durchbruch war es auch, allerdings durch den Boden eines erfüllten Lebens in die pechschwarze Bodenlosigkeit der Auslieferung. Eben hat Judas die zum Abendmahl Versammelten verlassen, um Jesus auszuliefern. Das hier verwendete griechische Wort kann Verschiedenes bedeuten: ausliefern, verraten, aber auch überliefern. Es wird auch verwendet, wenn von der Überlieferung des Wortes Gottes die Rede ist. Einer musste Jesus überliefern oder ausliefern, einer musste es tun nach der Prophezeiung der Heiligen Schrift. Nun also ist Judas hinausgegangen. Und nun nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Das wusste Jesus. Und am Abend des folgenden Tags war er nicht mehr am Leben. In dieser Situation sagt er: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht…“

 

Stellen Sie sich vor, Sie wären nach einer Reihe von Untersuchungen im Spital, der Arzt kommt mit ernster Miene und eröffnet Ihnen, Sie hätten nur mehr kurze Zeit zu leben. Unheilbar krank, keine Hoffnung auf Heilung. Und nun?  - „… - dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt.“ – hat Franz Kafka einmal geschrieben. Würden Sie sich angesichts des baldigen Todes, der Krankheit ausgeliefert zu Ihrer „wahren Gestalt“ erheben? Und was ist das: die wahre Gestalt?

 

Was Jesus sagt: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht“ bedeutet gerade, dass sich nun seine wahre Gestalt zeigen wird. Sie wird für alle wahrnehmbar werden. Was dann sichtbar war, ist ein zum Tod Verurteilter gewesen, ein Gekreuzigter, der elend zugrunde gegangen ist. Keine Spur von Glanz. Ist das die wahre Gestalt?

 

Das Evangelium stellt mich vor eine Frage. Es fordert von mir eine Entscheidung. Wie stelle ich mir die Erfüllung meines Lebens vor? Sie könnte am Geld hängen, an Macht und Einfluss, Erfolg und Anerkennung. Oder Ruhe, Stille, Behaglichkeit, Bequemlichkeit und Komfort, nur keine Aufregung, nur kein Stress. Jeder hat seine Familie. Das kann auch ein Freundeskreis sein, oder es sind die Verehrer, oder ein Klub, das gesellschaftliche Umfeld. Eine Umgebung, die mir meine Bedeutung vor Augen führt, die mich in meiner Größe spiegelt, die mir Anerkennung sichert, die mich mit einem Wort „verherrlicht“. Was aber geschieht, wenn einer „gänzlich aus seiner Familie ausgetreten“ ist? Weil ihn eine Nachricht von Tod und Unheil herausgerissen hat. Oder das Scheitern in anderer Form.

 

Was kommt nach dem kleineren oder größeren Tod, der in Form von Unheil, Scheitern, Trennung, Verlust sich Tag für Tag in mein Leben drängt? Ich kann mein Leben in einem Horizont leben, den jede Erfahrung von Verlust immer deutlicher, immer reiner wahrnehmbar macht. Denn die Hingabe, die Liebe kann in allem gelebt werden. Sie wird umso deutlicher in Erscheinung treten, je mehr der Auszug vollzogen wird aus allen Formen von Selbstbestätigung. Je mehr einer „gänzlich aus seiner Familie ausgetreten“ ist. Das ist ein lebenslanger Prozess. Aber gerade das ist der Weg, den Jesus gewählt hatte. Sein Leben war eine Ekstase der Liebe. Ich selber kann in diese Ekstase hineinwachsen. Das ist mit dem neuen Gebot gemeint: Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Dieses Gebot hilft mir, mich zur wahren Gestalt meines Lebens zu erheben. Was immer auch geschieht, ich kann es schöpferisch verwandeln zu einem Raum, in dem meine Gestalt immer strahlender, immer leuchtender in Erscheinung tritt. Alles kann mich zur Liebe befreien. Wenn ich bereit bin, aus mir selbst herauszutreten. Diesen Schritt muss ich wagen. Eine Spur der Hingabe durch mein Leben zu legen.