Erfüllte Zeit

03. 06. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Geist als Beistand und Lehrer“ (Johannes 16, 12 – 15)

von Prof. Wolfgang Langer

 

 

„Was ist Wahrheit?“ Die skeptische Frage des Pilatus (Joh 18, 38) ist in aller Munde. Wer heutzutage mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit zu besitzen, muss sich auf Widerspruch gefasst machen. Nicht, wenn er behauptet, dass alle Stubenfliegen sechs Beine haben oder dass sich die Erde in 365 Tagen um die Sonne dreht. Es geht nicht um die kleinen Wahrheiten, die eigentlich nur Beschreibungen der allen zugänglichen Wirklichkeit sind. Es geht um die große Wahrheit über Mensch, Welt und Gott. Dass der Mensch Gottes Ebenbild sei und die Welt das Werk eines allmächtigen Gottes, ja dass es diesen Gott, den niemand je gesehen hat, überhaupt gebe: das wird kaum noch auf ungeteilte Zustimmung stoßen. „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen“ (Joh 16, 13), sagt Jesus im Johannesevangelium. Was da im griechischen Text steht, kann man auch noch anders übersetzen: Er wird euch „Weggeleit geben in der ganzen Wahrheit“. Die ganze Wahrheit – sie steht niemals einem einzelnen Menschen, aber auch nicht der gesamten Kirche zu einer bestimmten Zeit vollständig zur Verfügung. Sie ist die gesuchte, erhoffte Antwort auf die großen und letzten Fragen des Menschen nach sich selbst, nach dem Sinn seines Lebens und Leidens, schließlich die Frage nach einem tiefsten Geheimnis in und hinter allem, was ist, nach dem Geheimnis, das wir Gott nennen. Die Antworten auf derartige Fragen liegen nicht auf der Hand. Sie stehen auch nicht so in der Bibel, dass wir sie dort einfach ablesen könnten. Auch für den glaubenden Christen bleiben sie auf schmerzhafte Weise offen. Und doch hat uns Jesus auf die Spur gebracht. Er hat uns die Richtung gewiesen, in der wir weiter fragen können. Seine Worte sind anfängliche Wahrheiten, die unser Fragen nicht ein für allemal beenden, sondern erst richtig in Gang bringen. Unser ganzes Leben lang bleiben wir auf der Suche. Wer auf Jesus hört und ihm glaubt, weiß gewissermaßen, wo er suchen muss. Freilich: seine Worte sind zweitausend Jahre alt. Sie sind in dieser langen Zeit immer wieder neu gehört und bedacht worden. Es gab und gibt bis heute Streit darüber, wie sie im Einzelnen in der jeweiligen Zeitsituation zu verstehen sind: unterschiedliche Meinungen, Bekenntnisse, Kirchen. Wer hat Recht? In diese Verlegenheit trifft das heutige Wort: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit...“ Wir sind nicht allein gelassen mit den alten Worten, mit der (heiligen) „Schrift“. Der Geist, der von Jesus, dem Sohn, und vom Vater ausgeht (wir begehen den „Dreifaltigkeitssonntag“!), ist hinein gesandt in die Gemeinschaft der Glaubenden. Ihn können wir anrufen (parákletos ist der „Herbeigerufene“): das überlieferte Wort ist betend zu bedenken. In diesem Geist bleibt der Herr selbst lebendig bei und in seiner Gemeinde. Er bewahrt sie in seiner Wahrheit. Nicht in allen Einzelheiten – darüber wird und muss weiter gerungen und sogar gestritten werden (im Geist der Liebe). Aber in dem, worauf es ankommt: im Bekenntnis zum dreifaltigen Gott, der alle Menschen liebt und der ihnen in Leben, Tod und Auferstehung des Sohnes das „Leben in Fülle“ (vgl. Joh 10, 10) gegeben hat.