Erfüllte Zeit

15. 07. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

“Das Beispiel vom barmherzigen Samariter” (Lukas 10, 25 – 37)

von Prof. Leopold Neuhold

 

 

Samariter und barmherzig, das sind Wörter, unter denen sich heutige Menschen wenig Konkretes vorstellen können. Das hindert nicht daran, dass der in diesem von Jesus erzählten Beispiel des Barmherzigen Samariters enthaltene zentrale Aufruf zum Einsatz für den in Not Geratenen sprichwörtlich geworden ist. Schon im Gleichnis selbst finden wir aber mehrere Knackpunkte für das richtige Verständnis dessen, wofür der Barmherzige Samariter steht. Ich will nur drei solcher Punkte ansprechen.

 

Da ist einmal der Punkt, an dem das Gleichnis selbst die Hörerin und den Hörer auf die falsche Fährte zu führen scheint: dort, wo davon berichtet wird, dass Priester und Levit achtlos am Mann vorübergehen, der unter die Räuber gefallen ist. Wenn das kein Grund für Empörung, für gerechtfertigte Empörung ist! Die, die es wissen sollten, dass es ihre Pflicht ist, dem in Not Geratenen zu helfen, tun es nicht. Man hätte es sich von ihnen erwartet - und diese Hilfe erscheint auch ganz natürlich. Über die Empörung darüber, was die Anderen nicht tun, vergessen wir aber sehr oft das, was wir tun sollten.

 

Im Rahmen eines Predigtseminars wurde einmal folgendes Experiment durchgeführt. Auf dem Weg zur Probepredigt über das Thema des barmherzigen Samariters stellte man eine Szene des Gleichnisses nach: Ein Mann, als verletzt und hilfsbedürftig dargestellt, wurde an einem Ort platziert, an dem jeder Kandidat auf dem Weg zur Predigt vorüberkommen musste. Die meisten, die zur Predigt eilten, gingen achtlos vorüber. Sie handelten nicht so, wie sie es nachher in der Predigt über den barmherzigen Samariter einforderten. Empörung! Aber ich frage mich: Wäre ich stehen geblieben, wenn es von dieser Predigt abhängig gewesen wäre, ob ich das Seminar schaffe oder nicht? Über die berechtigte Kritik am Anderen versäumen wir es oft, unser eigenes Handeln kritisch in den Blick zu bekommen, und wir benutzen diese Kritik, um von unserem Nichthandeln abzulenken.

 

Ein zweiter Knackpunkt zeigt sich in der Frage, die der Gesetzeslehrer stellt. „Wer ist mein Nächster?“ Eine wichtige und gute Frage, aber zugleich eine gefährliche Frage, auch weil sie vom Schriftgelehrten, wie es im Text heißt, gestellt wurde, um seine Frage nach dem ewigen Leben zu rechtfertigen. Die Auseinandersetzung in Bezug auf die Frage, wer mein Nächster ist, richtet sich auf eine Abgrenzung von Personengruppen und Personen, die als Nächste oder eben nicht als Nächste begriffen werden sollen. Und in der Erörterung dieser Frage findet man gute Gründe, um nicht helfen zu müssen. Kann es wirklich gefordert sein, auch unter Gefahr zu helfen? Die Räuber könnten ja zurückkommen. Hätte der Niedergeschlagene nicht besser aufpassen sollen? Oder: Vielleicht ist es eine Falle – und der Nächste ist gar nicht mein Nächster, sondern der, der das mir Nächste, mein Geld, will? Es ist ja bemerkenswert: Jesus formuliert die Frage entscheidend um: Nicht: Wer ist mein Nächster?, sondern: Wer hat sich als Nächster erwiesen? Entscheidend ist es, sich als Nächster zu erweisen, und dies nicht über die Diskussion, wer mein Nächster ist, zu vergessen.

 

Und schließlich eine dritte Hürde. Der Gesetzeslehrer fragt: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Das ist eine Frage, die auf das Ganze geht. Es geht offensichtlich um die religiöse Frage, die nach unserem heutigen Verständnis von Religion auf Außergewöhnliches zielt. Darüber muss man ganz tief nachdenken – aber über dieses Nachdenken und Theoretisieren kann die Chance des Gewinnens des ewigen Lebens versäumt werden, wenn wir nicht ganz alltäglich und auch „gewöhnlich“ handeln. In der konkreten, alltäglichen Tat für den Nächsten wird die Basis für das ewige Leben gelegt.

 

„Du musst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen“ und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: Das sind die Wegweiser in Richtung ewiges Leben. Diese beiden Blickrichtungen der Liebe werden durch das Gleichnis des barmherzigen Samariters zusammengeführt in die Aufforderung: „Liebe Gott in deinem Nächsten!“ Wenn ich mich als Nächster erweise, bin ich Gott nah.