Erfüllte Zeit

29. 07. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

“Das Gebet des Herrn”

(Lukas 11, 1 – 13)

von Prof. Leopold Neuhold

 

 

Warum heute noch beten? Das ist eine Frage, die oft zu hören ist. Und diese Frage stellt sich in der Tat, hat doch der heutige Mensch Eigenmacht gewonnen, die scheinbar beten unnötig macht. Beten steht ja mit Bitten in einem engen Zusammenhang. Bitten muss ich um etwas, was ich mir nicht selbst verschaffen kann.

 

Da ist heute gesellschaftliche Organisation wichtiger, um zur Abdeckung der Grundbedürfnisse zu kommen. In der Erweiterung seiner Möglichkeiten und in der Weiterentwicklung der Gesellschaft hat sich der Mensch von Gott emanzipiert. Warum dann wie ein Kind sein, das seinen Vater bitten muss? Das, was früher Gott machen musste, nämlich Lücken schließen, wenn der Mensch an seine Grenzen stieß, das kann der Mensch heute in der gesellschaftlichen Verbundenheit selbst. Und wenn das nicht geht, dann nützt auch Gott nichts.

 

Diese Haltung habe ich einmal sehr gut durch einen Spruch, den ich auf einem Bus gelesen habe, dargestellt gefunden. Dieser Spruch lautete: „Lange war ich Atheist, bis ich draufkam, dass ich Gott bin.“ Wer selbst Gott ist, braucht natürlich nicht zu Gott zu beten, und schon gar nicht muss er ihn Vater nennen, noch weniger Vater unser. Wenn schon, dann mein Vater oder besser mein Bruder. Zu Gott zu beten wäre dann Zeichen der Schwäche.

 

Aber ist beten wirklich Schwäche und Rückfall in die Kindheit, also in zum Teil entwürdigende Abhängigkeit?

 

Beten verweist richtigerweise auf Bezogenheiten des Menschen und gestaltet diesen Raum der Beziehungen aus. In Beziehungen kann der Mensch wachsen. Der Mensch ist nämlich darauf angelegt, über sich selbst hinauszugehen. Im Hinausgehen kann er zu sich selbst kommen. Im Gebet wird diese Exzentrik des Menschen, wie ich sie nennen möchte, sichtbar. Indem er seinen Geist zu Gott erhebt, werden dem Menschen Perspektiven eröffnet, Horizonte werden sichtbar, die den Menschen in die Weite weisen.

 

Es ist ja bemerkenswert, dass die ersten Bitten des Vaterunsers diesen Horizont, der über den Menschen hinausführt, eröffnen. Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme. Der Bezugspunkt des Menschen ist Gott, liegt also außerhalb des Menschen. Erst dadurch kann er Einordnung finden, einen Rahmen, der eröffnet und nicht verschließt. Das Reich Gottes bildet diesen Rahmen, der als Ort der Liebe und Gerechtigkeit als Zielperspektive, die nie ganz eingeholt werden kann, dient. Damit soll nicht der Versuch gestartet werden, den Himmel auf Erden zu schaffen. Nach dem Philosophen Karl Popper haben ja noch alle, die den Himmel auf Erden zu schaffen versuchten, die Hölle gebracht. Es sollen aber Spuren des Himmels auf der Erde sichtbar werden, Öffnungen, die mit diesem Blick möglich sind. Die Bitte um das Kommen des Reiches weist so auf eine Bezugsgröße für unser Gestalten hin, ohne die jede Gestaltung zwanghaft werden muss, weil sie nur von sich etwas erwartet.

 

In diesem Rahmen des Reiches Gottes bekommt die Bitte um das tägliche Brot, das wir brauchen, und um den Nachlass von Sünden und Schulden einen Anstoß, das Ganze des geglückten menschlichen Lebens zu sehen. Die Fäden, die in dieser Welt verknotet sind, können nur gelöst werden, wenn man sie von einem Punkt außerhalb des Knotens betrachtet. Vielleicht liegt darin auch der Kern der Bitte: Führe uns nicht in Versuchung, nämlich in die Versuchung, alles selbst tun zu wollen, und uns damit in einen unmenschlichen Gestaltungs- und Korrekturzusammenhang zu stellen, der vom Reich Gottes als dem Reich der Liebe, das im Wort Vater angesprochen ist, wegführt. Der Mensch in seiner Gebrochenheit kann diese Gebrochenheit nur in liebender Beziehung zu Gott, der die Person auf der anderen Seite des Bezugs ist, bewältigen.

 

Beten bedeutet so Einbeziehung in das Ganze, das mit dem Begriff Heil, geheiligt angesprochen wird. Im Bitten werden unheile Situationen nicht immer heil, die Bitten werden aber, besonders wenn sie hartnäckig sind, erhört, insofern als der Mensch ins Weite geführt wird und die Sicht sich auf den Heilszusammenhang hin weitet.

 

„Ich bin fassungslos“, schluchzt die Glühbirne. Für eine Glühbirne ist es wahrhaftig schlimm, fassungslos zu sein und damit der Möglichkeit beraubt, an die Kraftquelle angeschlossen zu werden. Ebenso aber auch für den Menschen. Ein Element dieser Fassung ist uns im Gebet gegeben, das uns an die Kraftquelle Gott anschließt.