Erfüllte Zeit

30. 09. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„In diesen Wochen der Gebundenheit habe ich erkannt, dass die Menschen immer dann verloren sind und dem Gesetz ihrer Umwelt, ihrer Verhältnisse, ihrer Vergewaltigungen verfallen, wenn sie nicht einer großen inneren Weite und Freiheit fähig sind. Wer nicht in einer Atmosphäre der Freiheit zuhause ist, die unantastbar und unberührbar bleibt, allen äußeren Mächten und Zuständen zum Trotz, der ist verloren. Dieser Freiheit wird der Mensch nur teilhaftig, wenn er seine eigenen Grenzen überschreitet.
Er kann dies auch in unzulässiger, empörerischer Weise versuchen. Aber gerade der im Menschen schlummernde Blitz zur seinshaften Meuterei zeigt, wie sehr des Menschen Wesen darauf angelegt ist, aus seinen Grenzen herauszukommen. Den Rebellen kann man noch zum Menschen machen, den Spießer und das Genießerchen nicht mehr. Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Stunde der Begegnung mit Gott.

 

Diese Freiheit kann nur gewinnen, wer die Wüste auf sich nimmt. Die Wüste gehört dazu. Die menschliche Freiheit ist ein Ergebnis der Befreiung. Allein und schutzlos den Winden und Wettern, dem Tag und der Nacht und den bangen Zwischenstunden preisgegeben. Und dem schweigenden Gott. Es steht schlimm um eine Welt, wenn in ihr kein Platz mehr ist für die Wüste und den leeren Raum. Wenn alles erfüllt ist mit Lärm und mit Verbindungen und Kanälen und Verkehrsadern usw. Das Gesetz des totalen Nutzens und der totalen Zweckmäßigkeit ist kein Gesetz des Lebens.  Das Leben ist gerade da, wo es selbst über sich hinaus will, nicht allein gelassen, weil sich Gott als Mensch zu uns gesellt hat. Wir sind nicht allein. Wir sind den Dingen gewachsen.

 

 

(aus: Alfred Delp, Gesammelte Schriften, Band IV: Aus dem Gefängnis.
Herausgegeben von Roman Bleistein. Frankfurt 2 /1985, S. 215-224).