Erfüllte Zeit

14. 10. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die zehn Aussätzigen und der dankbare Samariter“

(Lukas 17, 11 – 19)

von P. Bernhard Eckerstorfer OSB

 

 

Heute und an den beiden nächsten Sonntagen darf ich Ihnen einen Einblick geben, wie ich als Benediktiner die Heilige Schrift lese und aus ihr zu leben versuche. Wenn jemand unser Kloster besucht, fallen ihm zunächst die gemeinsamen Gebetszeiten und die Tätigkeitsfelder auf: ora et labora – „bete und arbeite!“. Der dritte Grundpfeiler des benediktinischen Lebens ist weniger offenkundig: Von Anfang an gehört die geistliche Lesung zum verborgenen Tun der Mönche. Der heilige Benedikt sieht für diese Lectio Divina mehrere Stunden am Tag vor. Sie wird heute innerhalb und außerhalb der Klöster neu entdeckt. Deshalb braucht die benediktinische Kurzformel eine Erweiterung: ora et labora et lege – „bete, arbeite und lies!“

 

Wir verbringen lange Zeit mit ein paar Versen der Heiligen Schrift, drehen und wenden sie und versuchen, die Bibel mit dem eigenen Leben ins Gespräch zu bringen. Zuerst baue ich vor meinem inneren Auge den Schauplatz auf: stelle mir Jesus vor, wie er zum Dorf kommt, von dem das Evangelium heute spricht. Da laufen zehn Aussätzige auf ihn zu – lebendige Tote, die im wahrsten Sinne des Wortes un-ansehnlich sind. Sie müssten eigentlich aus dem gesetzlich vorgeschriebenen Abstand heraus rufen: „unrein, unrein!“ Doch sie haben von Jesus und seinen Heilungen gehört, und das ermutigt sie zu ganz anderen Worten: „Meister, hab Erbarmen mit uns!“ Welche Sehnsucht, welche Kraft steckt in dieser schlichten Bitte! Fast als wäre ich dabei, hallt in mir der eindringliche Schrei der zehn armen Kreaturen wider: „Meister, hab Erbarmen mit uns!“

 

Ich verweile bei diesem vertrauensvollen Ruf, der die ganze hl. Schrift durchzieht. Bei Jesaja bittet das Volk Israel: „Herr, hab mit uns Erbarmen; denn wir hoffen auf dich.“ (Jes 33,2) In den Psalmen betet ein Mensch in Todesnot: „Gott sei mir gnädig nach deiner Huld.“ (Ps 51,3) Der blinde Bartimäus schreit: „Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ (Mk 10,46-48), und der Vater des mondsüchtigen Knaben fällt vor Jesus nieder: „Herr, hab Erbarmen mit meinem Sohn!“ (Mt 17,15) Auch ich rufe jeden Tag in der Liturgie: „Herr, erbarme dich!“ Im Kyrie der hl. Messe ist diese Bitte getragen vom tiefen Vertrauen, ja vom Wissen: Der Herr wendet sich uns zu. Das erflehen und bekennen wir in der Eucharistiefeier, also in der Danksagung. Auf den Dank kommt es auch dem heutigen Evangelium an.

 

In der Lectio Divina bin ich zum Text, der vor mir liegt, zurückgekehrt. Jesus schickt die zehn Aussätzigen weg, sie glauben ihm und laufen zur damaligen Gesundheitsbehörde. Auf dem Weg dorthin geschieht plötzlich das Wunder. Jesus hat sie berührt und geheilt. Aber nur einer, noch dazu der Fremde und Ungläubige aus dem verachteten Volk der Samaritaner, lobt Gott dafür und kehrt zu Jesus zurück. Ich frage mich: Habe ich nicht auch das Danken verlernt? Bis hin zum Geschenk des täglichen Lebens empfinde ich doch alles als ziemlich selbstverständlich. So gehe ich in mich und schaue aufmerksam mein Leben an: Was alles habe ich seit meiner Geburt empfangen! Wie viele Menschen haben mich beschenkt. Das ist unverdiente Gabe. Um das im Bewusstsein zu halten, ist es bei uns im Kloster üblich, dass wir um alles bitten. Ich kann über mein Gehalt für den Schulunterricht nicht selbst verfügen. Früher kam noch deutlicher zum Ausdruck, dass wir alles Gott verdanken: Sooft ein Mönch von seinen Oberen etwas auch noch so Geringes erhielt, antwortete er: „Dank sei Gott für seine Gaben!“

 

Daran denke ich bei diesem Evangelium und versuche mich Jesus gegenüber zu stellen. Ich sehe den Samariter, wie er sich vor Jesus niederwirft. Äußerlich gesehen macht er sich klein, in Wahrheit ist er groß im Vergleich mit den anderen neun. Der Dank und das Lob verwandeln ihn: Er bleibt nicht mehr in Distanz zu Jesus, sondern kommt ganz in seine Nähe. Der Herr richtet ihn auf: Erheb dich, geh deinen Weg, dein Glaube hat dich gerettet. Und jetzt lege ich den Text weg und verharre in Stille vor Gott.

 

Diese Begegnung will meinen ganzen Tag prägen. Das Evangelium wird mir  in der Eucharistiefeier dieses Sonntags wieder begegnen: Herr, hab Erbarmen mit uns! – Danke für alle Deine Gaben, danke für das neue Leben in dir! Ich nehme ihn auf im Wort und im Brot, lobe ihn und danke ihm gemeinsam mit den anderen. Ganz gleich wo ich bin: Immer neu darf ich zu ihm zurückkehren – voll Vertrauen und Erwartung. So trägt mich das Evangelium sogar über meinen eigenen Tod hinaus, und ich stelle mir vor, wie der Herr am Ende der Zeiten zu mir sagt: Steh auf, steh auf, dein Glaube hat dich gerettet!