Erfüllte Zeit

21. 10. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die unnachgiebige Witwe und der ungerechte Richter“ (Lukas 18, 1 – 8)

von P. Bernhard Eckerstorfer OSB

 

 

Die Mönchsväter lehren: Jede Stelle der Heiligen Schrift hat eine tiefere Bedeutung; jeder Vers offenbart, wer Gott ist und wozu er mich ruft. Das hörende, betende Lesen der Heiligen Schrift, die Lectio divina, gehört für die Mönche zum Kern ihres Tageslaufes und zur Mitte ihres Lebens. In ihr machen wir uns das Wort Gottes zu eigen, und dieses Wort verwandelt uns. Doch nur selten zieht mich der Text sofort in den Bann. Oft muss ich mich gehörig anstrengen, bis ich in das Wort und die Botschaft hineinfinde.

 

Das heutige Evangelium ist für mich eine solche Nuss, die nicht leicht zu knacken ist. Eine Dreiviertelstunde habe ich mich mit der Schale geplagt, ohne an den Kern zu kommen. Eigentlich geht mir diese Witwe auf die Nerven. Ich sehe sie vor mir: Sie bearbeitet den Richter. Sie beschimpft ihn. Vielleicht hat sie ihn sogar bedroht. Unwillkürlich denke ich an zudringliche Menschen, die mich einfach aufregen: So etwas kann doch keine vorbildliche christliche Haltung sein! Und beim ungerechten Richter wird das Bild dann rettungslos schief: Ein so gottloser, selbstherrlicher Menschenverächter taugt doch nicht als Beispiel dafür, wie Gott uns Menschen behandelt!

 

Doch auf dem Weg der alten Mönche komme ich weiter. Wir sollen die Bibel ja nicht  lesen wie einen Zeitungsartikel oder gar überfliegen wie eine Website. Erst in der steten Wiederholung – die Mönchsväter sprechen nicht umsonst vom „Wiederkäuen“ – dringen wir tiefer ein. Also kehre ich geduldig zum sperrigen Text zurück. Da fällt mir plötzlich der erste Satz des Evangeliums auf: Wir sollen allezeit beten und darin nicht nachlassen, sagt Jesus. Die Witwe zeigt mir: Gott will bekniet werden, beharrlich und lautstark. „Er liebt es“, sagt ein Zisterzienser aus dem 12. Jahrhundert, „er liebt es, von dir Gewalt zu erleiden. Er sehnt sich danach, von dir besiegt zu werden.“ Hat nicht auch der Patriarch Jakob im Alten Testament mit dem Boten Gottes gerungen und ihn solange festgehalten, bis er ihn segnete?

 

Aus dieser Sicht wird mir die Witwe sympathisch. Als rechtlose, alleinstehende Frau im damaligen Israel hat sie doch für die Christen etwas zu sagen. Kein Detail der Bibel ist belanglos. Spricht der Evangelist Lukas vielleicht deshalb von einer Witwe, weil sich seine Gemeinde wie ein verlorener und vergessener Haufen vorkam? Jedenfalls sind die entschiedenen Christen damals wie heute oft hilflos und schutzlos, ein unverstandener Fremdkörper. Das Leben nach den evangelischen Räten Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam etwa stößt außerhalb und innerhalb der Kirche nicht selten auf ein mildes Lächeln oder offene Ablehnung.

 

Jesus ist wichtig, dass die merkwürdige, ausgegrenzte Witwe sich nicht beleidigt zurückzieht. Sie lässt nicht locker. Immer wieder bittet sie den Richter um Hilfe. So sollen auch wir an Gottes Tür pochen, an seinem Herzen rütteln – unaufhörlich. Er will bedrängt und gebraucht werden. Das Schlimmste ist, ihn zu ignorieren oder ihm gar nicht zuzutrauen, dass alles in seiner Macht steht und dass unsere Bitten sein Herz bewegen. Schon die Propheten des Alten Testaments sahen ihre Aufgabe darin, Gott an sein Versprechen zu erinnern, er werde sein Volk niemals verlassen. Auch wir sollen ihm vorhalten: „Merkst du nicht, wie schlecht es uns und anderen oft geht? Es liegt wirklich an dir, das zum Guten zu wenden!“

 

Allmählich kann ich auch etwas mit dem nachlässigen Richter anfangen. Viele Menschen haben das Gefühl, Gott kümmere sich nicht um sie; sie leiden an seiner scheinbaren Untätigkeit. Bereits die ersten Christen waren enttäuscht, dass der Herr nicht bald nach seiner Himmelfahrt zurückkehrte, sie fühlten sich von ihm in Stich gelassen. Und wir können nicht verstehen, dass das intensive Gebet nicht sofort eine Änderung bringt. Ich denke an die unzähligen Frauen im Krieg, die jahrelang mit ihren Kindern Gott um die Heimkehr ihrer Männer angefleht haben – vergeblich; oder an das Frauenkloster: wo in den letzten Wochen unaufhörlich für die Genesung einer jungen Schwester gebetet wurde und die dann doch ihrem Krebsleiden erlag – warum erhört denn Gott diese Bitten nicht? Erst langsam, beim wiederholten Lesen, entdecke ich den Schlüssel zur Antwort auf diese bedrängende Frage: Jesus sagt am Ende des Gleichnisses: „Wird der Menschensohn noch Glauben vorfinden, wenn er wieder auf die Erde kommt?“ Fast ist es eine bange, flehende Anfrage, ob wir dran bleiben wie die Witwe. Er will und er wird uns alles geben, was wir brauchen. Jesus fordert uns mit diesem Gleichnis auf: Hängt euch an Gott, unbeirrt und mit aller Kraft! Glaubt ihm! Bittet ihn um alles und werdet darin nicht müde, auch wenn er noch so weit weg zu sein scheint! Der hl. Augustinus bringt dies mit wenigen Worten auf den Punkt: „Lasst uns also glauben, damit wir beten, damit wir bitten können!“