Erfüllte Zeit

28. 10. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Pharisäer und der Zöllner“ (Lukas 18, 9 -14)

von P. Bernhard Eckerstorfer OSB

 

 

Das heutige Evangelium gehört wohl zu den Top 10 für eine biblische Meditation. Ich gebe diese Stelle gerne den jungen Mitbrüdern am Beginn ihres Klosterlebens oder kurz vor der Priesterweihe. Zwei, drei Mal sollen sie darüber für mindestens eine halbe Stunde brüten. Ein tieferer Zugang zu dieser Geschichte stellt sich allerdings nicht von selbst ein, gerade weil sie uns so vertraut ist. Wie leicht sind wir versucht, die Szene an uns vorbeigleiten zu lassen: der Pharisäer – einer von diesen typischen Heuchlern; der Zöllner – ein Mann mit einem damals verdächtigen Beruf, dessen Leben eine Wende erfährt. Was gibt es da noch lange nachzusinnen? Ich möchte mir trotzdem die Mühe machen, genauer hinzuschauen.

 

Ich sehe den Pharisäer vor mir, wie er zum Tempel hinauf geht. Er ist verantwortungsvoll, gewissenhaft und treu; entsprechend dem jüdischen Brauch beginnt er sein Gebet mit einem freudigen Dank an Gott für alles, was ihm gelungen ist. Oberflächlich betrachtet ist er tüchtig und nimmt seinen Glauben ernst. Bräuchten wir nicht mehr solcher Menschen in Gesellschaft und Kirche? Dann könnten wir noch zuverlässiger, noch effizienter, noch perfekter arbeiten und leben. Doch Jesus schaut nicht auf das, was wir fertig bringen; wichtiger als unsere Leistung ist ihm unsere Sehnsucht. Das hat der Pharisäer, der seine Verdienste aufzählt, offenbar nicht verstanden. Und das kommt mir bekannt vor: Wie oft verfolgen mich die Gedanken an meine Aufgaben und Pläne bis ins Gebet. Was alles könnte ich noch bewerkstelligen? Wie sollte ich das oder jenes anfangen? Ich rede nur von mir und über mich, rechne mir vor, was alles durch mich geschieht … ich, ich, ich. Der Pharisäer ist mir näher als gedacht.

 

Sich selbst bescheinigen, dass man gut ist, und die Fehler der anderen herausstellen – sind das nicht zwei Seiten der gleichen Medaille? Andere verachten, um sich selber zu rechtfertigen – das hielten die Mönchsväter für besonders gefährlich. Für die frühen Asketen war das überhebliche, schlechte Reden über andere so zerstörerisch, dass sie die Zucht der Zunge über alles stellten: „Iss nur, wenn du Hunger hast, trink ruhig, wenn du durstig bist, aber sprich nie abfällig von einem anderen!“ Dabei haben sie selber ja auf Fleisch und Alkohol verzichtet, aber das war für sie nicht das Wichtigste. Deshalb konnte es ein alter Mönch so auf den Punkt bringen: „Besser ist es, Fleisch zu essen und Wein zu trinken, als in verleumderischen Reden das Fleisch der Mitmenschen zu essen!“

 

Der Pharisäer im Evangelium schaut nicht nur abfällig auf die anderen Menschen herab, eigentlich braucht er auch Gott nicht: er genügt sich selbst. Einsam, ganz auf sich gestellt geht er vom Tempel wieder fort. Der Zöllner dagegen weiß und sagt, dass er mit leeren Händen vor Gott steht. Seine eigene Schwäche und Schuld, die er mit sich schleppt, macht es ihm unmöglich, sich über andere zu erheben: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Damit sagt er alles, und deshalb kann ihm Gott alles schenken.

 

Der Zöllner gewinnt eine ungeheure Freiheit: Er gesteht Gott, dass er aus sich heraus nichts hat, und er erfährt, dass er von Gott alles empfängt. Er verlässt den Tempel im Frieden mit Gott und mit sich selber. Er hat Barmherzigkeit gesucht und gefunden. Barmherzig wird er auch mit seinen Mitmenschen umgehen.

 

„Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Das ist ein Geheimnis des christlichen, ja des menschlichen Lebens überhaupt. Isaak von Ninive, ein syrischer Mönch aus dem 7. Jh. sagt: „Diejenigen, die ihre eigene Bedürftigkeit kennen sind größer als jene, die sogar die Engel geschaut haben.“