Erfüllte Zeit

18. 11. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Jack Kornfield „Das Tor des Erwachens. Wie Erleuchtung das tägliche Leben verändert“

(Kösel-Verlag, aus dem Amerikanischen von Ilse Fath-Engelhardt)

 

So wie der heilige Johannes von der dunklen Nacht spricht, spricht die heilige Teresa von Avila von einer „inneren Burg“, um zu beschreiben, wie die Seele in sich gehen und in der Demut wachsen muss, bis sie „zur Wohnung Gottes in der Mitte der Burg“ kommt. In jedem Stadium verfeinern sich die Einsicht in die Gefahren der Angst, des Ansehens und des Besitzes sowie der Verzicht auf „weltliche Zerstreuungen“. So wie der heilige Johannes vom Kreuz schildert sie Phasen der Einsamkeit, des Leids und des Irrtums, durch die erfahrene Mystiker hindurchmüssen, was nur mit Hilfe des aufrichtigen Gebets und unerschütterlicher Liebe gelingt. „Es kommt nicht auf das Maß des Meinens, sondern auf das Maß der Liebe an.“ Durch diese ausdauernde Liebe, die stets den Nächsten mit einschließt, beginnt schließlich eine spirituelle Wiedergeburt, bei der die Seele gleich einer verpuppten Raupe ihre alte Gestalt aufgibt und aus dem Kokon des Göttlichen mit Flügeln hervorgeht.

 

Doch selbst nach diesem Erwachen und dieser Verwandlung sind die Schatten nur blasser geworden. So erinnert uns ein anonymer englischer Mystiker aus dem vierzehnten Jahrhundert in seinem Buch The Cloud of Unknowing daran, dass selbst „wenn jemand ein der Kontemplation geweihtes Leben führt, er sich niemals von allem irdischen Leid befreien kann“.

 

Unsere Herzen werden auf verschlungenen, geheimnisvollen Wegen weise. Man mag sich wünschen, dass Erleuchtung planbar sei, aber das Herz bahnt sich unvorhergesehen seinen Weg. Freiheit lässt sich nicht planen und befehlen. Für den reifen Geist besteht sie im Weg selbst. Es gleicht einem Labyrinth, einem Kreislauf, dem Sichöffnen einer Blüte oder einer sich verjüngenden Spirale, einem Tanz um die innerste Mitte. Die Zyklen wechseln laufend – Hochs und Tiefs, ein Sichöffnen und ein Sichschließen, ein In-Liebe-und-Freiheit-Erwachen, gefolgt von neuen subtilen Verstrickungen. Im Verlauf dieser großen Spirale kehren wir immer wieder an den Anfang zurück, aber jedes Mal mit größerer Erfahrung, mit einem weiseren Herzen.