Erfüllte Zeit

09. 12. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Rabbinerin Margaret Moers Wenig

„Gott ist eine Frau – und sie wird älter“

 

 

Heute lade ich Sie ein, sich Gott gemeinsam mit mir vorzustellen. Heute lade ich Sie ein, sich Gott als Frau vorzustellen, als Frau, die im Begriff ist, älter zu werden.
Gott ist eine Frau, und sie wird älter. Sie bewegt sich jetzt langsam. Sie kann nicht aufrecht stehen. Ihr Haar ist schütter. Ihr Gesicht von Falten durchzogen. Ihr Lächeln nicht länger unschuldig. Ihre Stimme ist rau. Ihre Augen ermüden. Das Hören strengt sie oft an. Gott ist eine Frau, und sie wird älter. Und doch – sie erinnert sich an alles.

 

SIE ÖFFNET IHR BUCH DER ERINNERUNG

"Da ist die Welt, als sie neu war, meine Kinder, als sie jung waren...!" Während sie Seite um Seite umblättert, lächelt sie. Sie bewundert unsere Errungenschaften: die Musik, die wir geschrieben, die Gärten, die wir gepflanzt, die Wolkenkratzer, die wir gebaut, die Geschichten, die wir erzählt, die Ideen, die wir gesponnen haben.

 

Dann gibt es Seiten, die sie gerne überschlagen würde. Dinge, die sie zu vergessen wünscht. Aber sie starren ihr ins Gesicht und zwingen sie, sich zu erinnern: Ihre Kinder, die das Heim zerstören, das sie ihnen geschaffen hat, Brüder, die einander in Ketten legen.

 

Sie gedenkt der Träume, die sie für uns hatte, Träume, die wir nie erfüllten. Und sie gedenkt der Namen, so vieler Namen, eingeschrieben in das Buch, Namen all der Kinder, die sie verloren hat.

 

Und was wäre, wenn wir es täten? Was wäre, wenn wir wirklich nach Hause gingen und Gott an diesem Jom Kippur besuchten? Wie würde es sein?

 

Gott würde uns in ihre Küche führen, uns an ihrem Tisch einen Platz anbieten und Tee einschenken. Wir wenden den Blick von ihr ab und lassen ihn über die Küche schweifen. "Ich habe nie geglaubt, deinen Erwartungen entsprechen zu können", sagen wir. "Und ich dachte immer, du könntest alles", antwortet sie. Dann berührt Gott unsern Arm und bringt uns aus der Nostalgie längst vergangener Zeiten zurück in die Gegenwart und Zukunft. "Du wirst immer mein Kind bleiben", sagt sie.

 

(Übersetzt von Evi Krobath)