Erfüllte Zeit

30. 12. 2007, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Von der Flucht bis zur Rückkehr aus Ägypten“ (Matthäus 2, 13 – 15. 19 – 23)

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

Normalerweise steht er neben Mutter und Kind, ein wenig im Hintergrund. Ein freundlicher älterer Herr mit Bart. Oft hat er eine Laterne in der Hand. Ein bisschen wirkt er wie der Chauffeur des Chefs, von ihm geschickt, um ein Auge auf die junge Dame und das Neugeborene zu haben. Als es gefährlich wird, packt er die beiden kurz entschlossen zusammen und bringt sie ins Ausland. Ein diskreter, verlässlicher Diener.

 

Aber ich will mir Josef einmal anders vorstellen. Weg mit Bart und Laterne. Ich nehme ihm dreißig Jahre und sage zu ihm: „Josef, ich will´s mit dir als jungem Mann versuchen. Sei in meiner Vorstellung Anfang zwanzig.“ So steht er nun da: jung, kräftig, wach, hellhörig, hellsichtig. Einer, der das Leben vor sich hat. So einer ist mein Josef. Aber keiner, der meint, er müsse sich sein Leben nach den eigenen Vorstellungen einrichten. Keiner, der mit seinem Denken nicht über das hinauskommt, was ihm sein enger Horizont an Möglichem anbietet. Mein Josef steht am Rand des Unerhörten und Ungeschauten. Sein Denken tastet die Wirklichkeit nach neuen Möglichkeiten ab. Nach dem, was den engen Raum der eigenen Existenz mit einem Mal aufreißt. Nach dem, was ins Freie lockt, ins Weite und Ungeahnte eines neuen Anfangs.

 

Ich entdecke also den Josef des Evangeliums neu. Und da begegnet mir einer, der etwas tut, das auch heute von entscheidender Bedeutung ist. Einer, dessen Handeln ganz aktuell ist. Denn dieser Josef schafft Strukturen, die das Entstehen von etwas ermöglichen, das nicht von ihm her kommt. Er schafft Bedingungen, die einen neuen Anfang ermöglichen. Er bietet Raum dem Neuen, das noch so zart und verletzlich ist, dass es Schutz braucht. Er setzt sein Leben ein für etwas, das nicht er begonnen hat, das nicht er gemacht hat, das nicht er erdacht hat. Er schafft Raum, wo das Unerhörte, das Ungeschaute wachsen und sich entfalten kann. Das heißt: Dieser Mann hat Scharfsinn und einen weiten Verstand, die nicht wiederum auf sich selbst zurückgebogen sind; er hat Sinn für das Mögliche, weit über die Grenzen seines eigenen Vorstellungsvermögens hinaus; er hat Mut und Freiheit, das Fremde, das Andere zu respektieren, ihm die Bedingungen zum Wachstum, zur Entfaltung zu schaffen.

 

Was ich hier beschreibe sind Menschen, die wir heute bitter nötig haben. Ich habe genug von denen, die mit ihren Initiativen doch immer nur das Bild des eigenen kleinen Geistes nach außen projizieren. Denen nichts anderes einfällt als die Darstellung der eigenen kleinen Bedürfnisse. Wo sind die Frauen und die Männer, die Strukturen schaffen, wo Neues möglich wird. Die dem Keimenden Schutz bieten. Die Räume offen halten, wo Unerhörtes Gestalt annehmen kann.

 

75 Prozent der 22 Millionen Einwohner von Venezuela leben unterhalb des Existenzminimums. Geschätzte 50 Prozent der rund 4 Millionen Einwohner von Caracas leben in riesigen Slums. In dieser ausweglos scheinenden Situation ist durch die Wachsamkeit eines Einzelnen etwas Wunderbares entstanden. Der Ökonom, Organist und Politiker José Antonio Abreu versammelte 1975 elf junge Leute, um mit ihnen in einem unterirdischen Parkhaus zu musizieren. Zur zweiten Probe kamen doppelt so viele, zur dritten waren es bereits 46. Es gelang Abreu, für sein Unternehmen die Unterstützung des Gesundheitsministeriums Venezuelas zu finden. Er versteht es als ein Sozialprojekt zur Förderung von Kindern aus ärmsten Verhältnissen. Die Regierung hat seither siebenmal gewechselt. Heute subventioniert sie das „Sistema“, wie das Unternehmen Abreus kurz genannt wird, mit 29 Millionen Dollar. 1975 gab es in Venezuela zwei Sinfonieorchester. Die Musiker kamen meist aus Europa. Heute gibt es 125 Jugendorchester, 57 Kinderorchester und 30 professionelle Sinfonieorchester. Die 90 Musikschulen des Sistema werden von 250.000 Kindern besucht. 90 Prozent von ihnen kommen aus armen Verhältnissen. Claudio Abbado kommt jedes Jahr mehrere Monate nach Venezuela. Kollegen wie Simon Rattle oder Zubin Mehta sind ihm gefolgt.

 

So wie dieses José Antonio Abreu stelle ich mir meinen Josef vor. Einen der Bedingungen schafft, dass Unerhörtes wachsen kann.