Erfüllte Zeit

03. 02. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Bergpredigt“

(Matthäus 5, 1 – 12a)

von Peter Paul Kaspar

 

 

Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind ein verführerischer Text. Wenigstens in der Version des Matthäus. Solche Sätze klingen angenehm. Da werden die Trauernden getröstet und die Hungernden satt. Da wird der Gewalt abgesagt, da werden Gerechtigkeit und Barmherzigkeit versprochen. Da wird Frieden gestiftet und unser Bemühen im Himmel belohnt. In einer solchen Religion kann man sich wohlfühlen, kann man seine Wunden lecken und seine Sehnsüchte befriedigen. Ein schmeichelweiches Programm für Harmoniebedürftige – könnte man sagen. Auf jeden Fall ein Text, den man gerne liest, wenn die Welt unrund läuft und die Sorgen drücken.

 

Gäbe es da nicht im Lukasevangelium als kämpferisches Gegenstück auch noch eine zweite Bergpredigt: Dort wird die Zahl der acht Seligpreisungen auf die Hälfte geschrumpft. Dafür gibt es vier drohende Weherufe: Wehe euch, die ihr jetzt reich seid! Wehe euch, die ihr jetzt satt seid! Wehe euch, die ihr jetzt lacht! Wehe euch, wenn euch die Menschen loben! Für euch gibt es keinen Trost, ihr werdet hungern und wehklagen! Bei Lukas ist die Idylle zerbrochen, weil den Seligpreisungen die Weherufe gegenübergestellt werden. Bei Lukas kann man die Bergpredigt nicht mehr harmlos lesen, als wäre sie ein harmonisierender Text, der einem über die Dissonanzen des Lebens hinweghilft.

 

Was also? Welcher Text gilt? Matthäus oder Lukas? Die harmonische Bergpredigt oder die kämpferische? Die Seligpreisungen oder die Weherufe? Ist das nicht eine arge Peinlichkeit, wenn Bibeltexte einander fast unversöhnlich gegenüberstehen? Hat man nicht schon genug damit zu tun, die hebräische Bibel der Juden mit der griechischen Bibel der Christen zu versöhnen – das Alte mit dem Neuen Testament? Könnte da nicht das Lehramt ein Machtwort sprechen! Da muss ein Dogma her, das alles aufklärt! Ein Glück, dass wir einen Papst haben – könnte man sagen – ein authentisches Lehramt, das verhindert, dass jeder Ketzer mit Bibelworten wie mit Waffen zum Kampf aufruft! Ach hätten wir doch nur eine jüdisch-christlich-evangelisch-orthodox-katholische Einheitsbibel! So könnte man sagen.

 

Es ist aber nicht nur die Bergpredigt, die erkennen lässt, dass der Bibel kein dogmatisches Einheitsprogramm zugrunde liegt. Die Bibel liefert überhaupt kein widerspruchsfreies Denksystem. Man kann die Bibel nicht als Steinbruch für eine theologische Kathedrale verwenden. Auch wenn gerade das katholische Bemühen um Einheit und Einheitlichkeit in der Lehre das vermuten lassen könnte: Ein gemeinsam jüdisch-christliches Lehrsystem ist der Bibel nicht zu entnehmen. Wer also aus den Dissonanzen und Ungereimtheiten der irdischen Existenz in biblische Harmonien zu flüchten meint, wird dort nur das finden, aus dem er flüchtet: den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit.

 

In den Texten der Bibel finden sich eben jene Erfahrungen, aus denen wir kommen. Also auch Schmerz, Trauer, Leid und Tod. Also auch Ungerechtigkeit und Schuld, ja sogar Verbrechen und Schande. Insofern ist die Bibel wahrhaftiger als unser Harmoniebedürfnis. Es ist, was es ist und es ist, wie es ist. Doch kommt in der Bibel auch unser Wünschen und Wollen zu Wort, unser Hunger nach Gerechtigkeit und unser Durst nach Frieden, unser Anspruch auf ein Leben in Würde und unsere Sehnsucht nach Liebe. Von beidem erzählt die Bibel: Von dem, wie es ist – und von dem, wie es sein will und sein soll. In der Bibel spiegeln sich Wohl und Wehe des menschlichen Lebens.

 

Wohl und Wehe – in diesem Spannungsfeld ereignet sich unsere Existenz. Deshalb gelten sowohl die Seligpreisungen des Matthäus als auch die Weherufe des Lukas. Deshalb hat unser Christsein beides im Blick: die Welt mit ihrem Leid und Unglück, mit Ungerechtigkeit und Krieg, mit Krankheit und Tod – aber auch unsere Sehnsucht nach Heilung, nach Vergebung, nach Versöhnung und Gerechtigkeit. Und unsere Sehnsucht nach Liebe. Die Predigt Jesu finden in den beiden Evangelien verschiedene Orte: Bei Matthäus ist es eine Bergpredigt – bei Lukas eine Feldpredigt in der Ebene. Wer die Symbolsprache der Bibel schätzt, mag das als Gleichnis sehen: Es ist dieselbe Welt, die man in der Ebene oder vom Berg aus sehen kann. Und dennoch sieht man nicht das gleiche Bild. Vom Berg aus – gleichsam im Überblick – mag man erahnen, wie die Welt in den Augen Gottes erscheint. Wer diese Ahnung hat – und mehr ist es nicht – den preist die Bibel selig.