Erfüllte Zeit

10. 02. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Versuchung Jesu“

(Matthäus 4, 1 – 11)

von Peter Paul Kaspar

 

 

Mancher Bibeltext erschließt sich leichter, wenn man ihn nicht so sehr als einen geschriebenen Text, sondern als ein Bild zu lesen versucht. Denn man kann auch Bilder, Musik, Kunstwerke oder die Körpersprache lesen, wenn man sich ihnen öffnet und ihrer Botschaft nachspürt. In der Bibel sind solche sozusagen „sprechende Bilder“ bei der Taufe Jesu oder bei seiner Verklärung zu vernehmen. Der Bibeltext von der Versuchung Jesu ist sogar nicht nur ein einzelnes Bild, sondern ein Triptychon – drei zusammenhängende Bilder für die Innere Welt unseres Glaubens:

 

Im ersten Bild tritt uns Jesus als Asket entgegen, halb verhungert, in der Wüste, nach vierzig Tagen heftigen Fastens. Und er weigert sich, aus Steinen Brot zu machen. Dieses Bild mag sich uns schwer erschließen, da wir kaum mehr wirklichen Hunger kennen und uns kaum vorstellen wollen, über so lange Zeit ohne zwingenden Grund derart radikal zu fasten. Ältere Menschen, die noch die Hungersnöte nach 1945 erlebt haben, könnten erzählen, wie köstlich ein trockenes Stück Brot sein kann. Ihnen ist vielleicht das erste Bild näher.

 

Im zweiten Bild findet sich Jesus auf der Zinne des Tempels und weigert sich, von Engeln hinabgetragen zu werden. Eine Vorstellung, die damals – lange vor den ersten geglückten Flugversuchen – die Fantasie der Mythen beflügelte und in der Welt des Göttlichen als göttliche Fähigkeit gesehen wurde: sich über die Erdgebundenheit der menschlichen Existenz zu erheben. „Zeig doch, dass du über den Dingen stehst, dass dich nichts hinabziehen kann in den Staub des Alltäglichen, dass du erhaben bist über die irdische Existenz!“

 

Im dritten Bild findet sich Jesus auf der imaginär höchsten Aussichtsplattform der Erde und bekommt die Weltherrschaft angeboten. Es ist die Fülle der Macht, die auch bis heute nie ein Mensch besessen hat – die aber seit Menschheitsgedenken starke Männer zu den grausamsten Verbrechen motiviert hat, die Menschen einander antun können. Was sich als Spitze des Menschseins anbietet, ist in Wirklichkeit sein tiefster Fall. Denn selten gelingt dem Menschen so perfekt das Böse, als wenn er es in guter Absicht tut.

 

Alle drei Bilder haben auf den ersten Blick ihre Faszination – und bei genauerem Hinsehen ihren Schrecken. Sie offenbaren dem Betrachter das gesamte Spektrum dessen, was Menschen möglich ist – im Guten wie im Bösen. Denn der Mensch ist selten so sehr und so bedrohlich zum Bösen versucht, als wenn er es unter dem Vorwand des Guten begehrt. Und wir tun das Böse umso perfekter, je mehr wir meinen, es aus guten Gründen zu tun. Und so äußert sich das vermeintlich Gute in der bösartigen Trias von Genusssucht, Ehrgeiz und Machtbesessenheit.

 

Die Menschheitsgeschichte ist voll von schrecklichen Versuchen, die Menschheit zu verbessern: Jeder der zahllosen Kriege wurde in der Absicht geführt, es nachher besser zu haben als zuvor. Kein Verbrechen geschieht, ohne dass man sich einen Vorteil davon verspricht. Jede Lüge scheint Schlimmes verhindern oder Gutes bewirken zu wollen. Die Kämpfe der Rassen, Klassen, Nationen und Kulturen – die Religionen leider nicht ausgenommen – haben stets verhindert, was sie bewirken wollten: die Verbesserung des Menschen und das Wohl der Menschheit.

 

Im biblischen Triptychon von der Versuchung Jesu zeigt sich, wie raffiniert das Böse im Gewand des Guten, des Heroischen, des Edelmütigen daherkommen kann. Und die entlarvenden Antworten Jesu – allesamt Zitate aus der hebräischen Bibel, also aus der Weisheit des Judentums – bringen es auf den Punkt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern vom Wort Gottes.“ – „Du sollst Gott nicht auf die Probe stellen.“ und: „Nur Gott allein sollst du anbeten und ihm dienen.“ Die Menschheitsgeschichte ist in ihren dunkelsten Stunden geprägt vom Versuch des Menschen, sich an Gottes Stelle zu setzen.

 

Dieser dreigesichtige Bibeltext steht am Beginn der Fastenzeit wie eine Bildtafel über die Verführbarkeit zum Bösen durch das scheinbar Gute. Und wenn Fasten nicht nur die Bedeutung haben will, einmal im Jahr weniger zu essen und den Winterspeck zu reduzieren, dann diese: Nicht alles, was gut scheint, tut dir gut. Die gute Absicht allein genügt nicht, um auch wirklich Gutes zu tun. Und: Es ist leichter, gut zu erscheinen, als gut zu sein. Oder um es mit einem Wort des gar nicht so frommen Gottfried Benn zu sagen: „Das Gegenteil von gut ist: gut gemeint!“