Erfüllte Zeit

13. 01. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Meister Eckhart „Das mystische Schauen“  

 

 

Drei Stufen sind es, wie die Menschen „Gott sehen“: Die auf der ersten Stufe stehen, wissen in ihrem Glauben nicht mehr von Gott, als sie in Begriffe fassen können. Es sind die, welche die Heilige Schrift lesen oder hören, sie auch innerlich verstehen und in guten Werken erfüllen. Ihnen genügt es, zu hören, dass drei Personen ein Gott sind und dass man ihm allein die Ehre geben soll. Bischof Albert sagt euch: „Gottes Kinder seid ihr!“

 

Die auf der zweiten Stufe stehen, „erkennen“ Gott im Lichte der Gnade – und wem von Gott rechte Erkenntnis aller Dinge mitgeteilt wird, dem ist allen Dünken, Wähnen und (bloß äußere) Glauben benommen. Er ist vorgedrungen zu der Wahrheit. Er braucht nicht mehr zu fragen nach allerlei Worten und Beweisen, die früher seinem Erkennen und Glauben zugrunde lagen und die er, sei es von den Menschen hörte, sei es aus dem eigenen Geiste schöpfte. Doch fassen solche Gott noch nicht tiefer, als er das Verlangen ihrer Seele stillt, als er ihnen Süßigkeiten, Andacht und andere solche Dinge gibt, die aus seiner Gnade fließen.

 

Die auf der dritten Stufte stehen, „sehen“ Gott in einem göttlichen Lichte. Es sind die vollkommensten. Denn sie müssen gestorben und gar tot sein und nicht mehr bei sich selber.

 

Johannes spricht: „Gott ist ein wahres Licht, das leuchtet in die Finsternis.“ Was ist  ‚Finsternis’? Dass der Mensch nirgends hafte noch hange und blind und unwissend sei gegenüber der Kreatur. „Niemand kann mich schauen und leben“, spricht der Herr. „Tot aber ist, wer der Welt tot ist“, sagt St. Gregorius. Tot ist, wen nichts berührt, was in der Welt ist. Sie sind versunken in die grundlose Tiefe Gottes, in die göttliche Wesenheit, da die Personen innebleiben in dem Wesen, wo das lautere Sein ist – und nichts erscheint, denn ein Licht in Gott. Und nicht nur Gott lebt in ihnen, sondern auch sie leben in Gott. In solchen ist schon jetzt des ewige Lebens Anfang.

 

 

(Aus: „Der mystische Strom - Von Paulus bis Pascal“, Eine Textauswahl von Otto Karrer, Otto Müller-Verlag Salzburg)