Erfüllte Zeit

13. 04. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Der Sonnenstrahl

 

 

Es ist schon so lange her, aber ich habe den Moment nie vergessen, als ich das erste Mal in allen Dingen einen Sinn sah...

In einem Sonnenstrahl, der durch das Fenster der Kapelle direkt in die Mitte der Apsis fiel, nicht auf den Priester, nicht auf das Kreuz oder das Tabernakel, nein nur in die Mitte des langen Teppichs, der sich bis zum Altar erstreckte. Links und rechts die Nonnen, teils verhärmt, vergrämt, verbittert oder mit einem seraphischen Lächeln, das sie schon als im Jenseits befindlich erscheinen ließ. Rund um mich die Kinder, die mir so viele Fragen stellten, die sie nicht wagten, den Nonnen zu stellen und die ich nicht beantworten konnte. Auch mich plagten viele von ihren Fragen – ich war kaum älter als die Ältesten von  ihnen -, Vor allem die ewig wiederkehrende Frage: Wie konnte ein lieber, gütiger, alles wissender Gott eine so grausame Welt erschaffen, in der es Mord und Totschlag gab und die ganze Natur aus Fressen und Gefressenwerden bestand. Immer fraß der Stärkere den Schwächeren. Wie konnte ein lieber Gott so etwas erschaffen.

 

Der Krieg war in vollem Gange, Bomben fielen, und viele Menschen starben einen gewaltsamen Tod. Hatte der allwissende Gott auch das schon gewusst?

 

In der Klosterschule musste ich viel Zeit in der Kapelle verbringen und konnte über all diese Dinge lange nachdenken. Was der Pfarrer sagte, beantwortete keine meiner Fragen. Das Ritual ging an mir spurlos vorüber, aber ich wusste, dass da etwas war, das mir fehlte, in meinem Leben einen Sinn zu sehen.

 

Und dann kam dieser Sonnenstrahl. Da geschah zwar etwas Wunderliches, aber es war kein Wunder, sondern etwas ganz Alltägliches, das an Frühlingstagen jederzeit passieren konnte. Ein simpler Sonnenstrahl. Aber plötzlich wusste ich die Antwort auf viele meiner Fragen. Es hatte eigentlich nichts mit dem Sonnenstrahl zu tun, aber in meiner Erinnerung war er wie ein Zeichen. Ich wusste plötzlich, wieso alles, was sich in der Natur abspielte, unser Leben eingeschlossen, möglich war, ohne aus Gott einen grausamen Tyrannen zu machen. Das Wort „lieb“, als Bezeichnung für eine Eigenschaft Gottes, kam mir plötzlich lächerlich vor. Gott war etwas ganz anderes, etwas viel Größeres, dem unsere Sprache gar nicht gerecht werden kann.

 

Und der Tod war nicht eine Strafe, wie es die Bibel darstellte, sondern ein abstrakter Begriff für etwas, das es in Wahrheit gar nicht gab. Und dieser Gott stand weit über den kleinlichen Dingen, die die Menschen einander antaten. Er war die Urkraft, die das Universum zusammenhielt. Für ihn gab es keinen Anfang und kein Ende. Also konnte er auch den Tod nicht erschaffen. Das aber hieß, dass der Tod, jeglicher Tod, auch der des kleinsten Wesens, nicht ein Ende bedeutete. Und hiermit wäre das größte aller Rätsel, nämlich das des Todes, gelöst. Für mich, für alle um mich herum, für meine Eltern, die ich damals noch hatte, und für jedes Lebewesen. Auf einmal fühlte ich mich so leicht, so unbeschwert, so über alles erhaben, vor allem über die Tatsache, dass auch die Nonnen um mich herum nur Menschen waren, mit allen Fehlern und allen Begierden der menschlichen Natur. Die Religion hat daran nichts ändern können. Plötzlich schien das alles nicht mehr wichtig zu sein. Das Leben hatte sich schlagartig verändert. Es war wieder lebenswert geworden. Wieso? Das wusste ich erst viel später. Ich war mit einem Mal erwachsen geworden und sah die Welt mit anderen Augen. Das Ausmaß dieser Erleuchtung, wenn man es so nennen kann, habe ich damals noch nicht begriffen, aber mit den Jahren hat sie Dimensionen angenommen, die mein ganzes Leben erfassten und mich in Harmonie mit meiner Umwelt und mir selbst leben ließen.

 

 

(Aus: „Der liebe Gott und die Großmama“ von Gertraude Portisch, Edition Portisch)