Erfüllte Zeit

08. 06. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Berufung des Matthäus und das Mahl mit den Zöllnern“

(Matthäus 9, 9 – 13)
von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

Das Reinlichkeitsbedürfnis ist eine ausgesprochen religiöse Angelegenheit. Es wurde in der Kirche sehr gepflegt. Eine beliebte Frömmigkeitsform war das oftmalige Beichten. Die Kommunion sollte im Zustand einer fast klinischen Reinheit empfangen werden. Eine scheinbare Nachlässigkeit in all diesen Dingen wird heute immer wieder bedauert. Mit dem Reinlichkeitsbedürfnis scheint es bergab zu gehen. Zumindest was die innere Reinlichkeit angeht. Denn auf Körperpflege und saubere Kleidung wird heute mehr Wert gelegt als je zuvor. Während die Beichtstühle leer bleiben steigt der Bedarf an Waschmitteln. Die modernen Ansprüche an ein gepflegtes Äußeres haben sogar das Bild der Gottesmutter geprägt. Früher wurde die Unbefleckte Jungfrau Maria als eine kräftige Frau dargestellt, die der Schlange ordentlich auf den Kopf getreten ist. Heute stellt man an einem viel besuchten Wallfahrtsort Maria im Bild eines Mädchens dar, das der Erscheinung von hageren Models in Modezeitschriften sehr verwandt ist. Die Reinheit des Herzens kommt in der makellosen Reinheit der Haut und in der absoluten Sauberkeit der Kleidung zum Ausdruck. Das Evangelium des heutigen Sonntags erzählt eine Geschichte, die bezeichnend ist für das Verhalten Jesu, für seinen Stil, würde ich sagen. Während Angehörige der religiösen Elite - das waren die Pharisäer zweifellos - mit Außenstehenden nichts zu tun haben wollten, verhält sich Jesus ganz anders. Er hat keine Bedenken, sich die Hände schmutzig zu machen. Er geht hinein in Bereiche, wo das Leben andere Formen angenommen hat, als es die Gebote der Religion vorschreiben. Er geht zu denen, die nicht zur Schar der anerkannt Frommen gehören. Er macht sich auf die Suche nach denen, die anders sind, draußen sind, die keinen Platz finden in der wohlgeordneten Welt der Kirchenbänke. Jesus ist ein Entdecker. Es treibt ihn über die abgesteckten Grenzen des guten Lebens hinaus. Wo andere nur Schmutz sehen, entdeckt er Perlen. So begegnet er dem Zöllner Matthäus, dem Angehörigen einer verachteten und gehassten Gruppe beinharter Geschäftsleute und Ausbeuter. Wie sieht es mit der Entdeckerfreude der Christen heute aus? Früher sind Männer und Frauen aufgebrochen in ferne Länder, fremde Kontinente. Heute ist jeder Winkel der Welt befahren, das Evangelium auch in fernsten Gegenden verkündet worden. Zugleich aber erleben die Christen in Europa, wie um sie herum die Schar derer, die scheinbar draußen stehen, immer größer wird. Die Sprachinseln der Kirchlichkeit sind umgeben von riesigen, aus kirchlicher Sicht unbekannten Territorien. Die weiten Kontinente der Kunst, der Wissenschaften, der Wirtschaft sind zu erkunden wie früher einmal Asien, Amerika, Afrika. Aber wer nimmt die Mühe auf sich? Wer geht hinaus aus den reinen Kirchenräumen? Im Feld der Künste und der Wissenschaften das Eigene neu entdecken zu lernen, ist für die Kirche Europas lebenswichtig. Im Schmutz einer scheinbar glaubenslosen Welt sind Perlen verborgen. Ich darf mir allerdings nicht zu schade sein, um mich abzumühen, um mir die Hände schmutzig zu machen. Die Vitalität der Kirche verhält sich verkehrt proportional zu ihrem Reinlichkeitsbedürfnis. Je größer das Verlangen nach Reinlichkeit, desto kleiner der Glaube, desto geringer die Vitalität. Wenn Jesus der Maßstab meines Handelns ist, dann kann ich mich auch darauf einlassen, Fehler zu machen. Gott steht nicht hinter mir mit dem Regelbuch in der Hand, um jede Abweichung von einer anerkannten Norm unverzüglich zu strafen. Wir brauchen heute Männer und Frauen, die bereit sind, sich selber aufs Spiel zu setzen, um sich auf die Suche nach dem Fremden zu machen. Die bereit sind, sich die Hände schmutzig zu machen, weil im Schmutz Perlen verborgen liegen. So wird die Botschaft des Evangeliums neu glaubwürdig. Denn da heißt es: Auch wenn wir verloren sind, es ist Gott, der sich auf die Suche nach uns macht. Es ist Gott, der uns findet. Immer wieder.