Erfüllte Zeit

06. 07. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Kommt alle zu mir! – Der Dank Jesu an den Vater“ (Matthäus 11, 25 - 30)

von Prof. Philipp Harnoncourt

 

 

Als ich ein Kind war, konnte ich nicht begreifen, dass alle Menschen einen Erlöser brauchen. Ja, ich habe sogar innerlich dagegen protestiert, selbst auf einen Erlöser angewiesen zu sein. Ich wusste wohl, dass ich oft schlimm war, vor allem sehr eigensinnig, oft auch boshaft, dass ich manchmal gelogen hatte, um einer Bestrafung zu entgehen, und dass ich meistens sehr unandächtig war bei den täglichen Gebeten.

 

Aber dass das alles so böse wäre, dass der Vater im Himmel seinen einzigen und geliebten Sohn meinetwegen zum qualvollen Sterben am Kreuz verurteilt, weil nur sein Blut meine Schuld tilgen könnte, das hielt ich doch für reichlich übertrieben. So rachsüchtig konnte ich mir auch den allergerechtesten Gott wirklich nicht vorstellen.

 

Ich wollte auch das „Reuegebet“ nicht sprechen, das wir vor der ersten Beichte gelernt haben und täglich beten mussten. Darin stand der Satz: „Du bist voll Liebe gegen mich, und ich habe dich so oft beleidigt.“ Was ist das für ein Vater, der sich von seinen Kindern beleidigt fühlt?

 

Mein Papa hat seine Einstellung so ausgedrückt: „Nur Hausmeister sind beleidigt!“ Dabei hat er aber ganz sicher nicht unsere Hausbesorgerin in der Goethestraße gemeint, die ein gütiger Engel war.

 

Irgendwo in einer hinteren Ecke meiner Seele hockte wohl auch ein ordentlicher Stolz, der es nicht ertragen wollte, ein böser Mensch zu sein, der um Vergebung bitten muss. Ich bin sicher nicht allein mit dieser Haltung. Vielleicht denkt sogar eine Mehrheit von Christen, dass sie so gut und so rechtschaffen lebt, dass sie keines Erlösers bedürfen.

 

Bei so einer Einstellung kann mich die Einladung Jesu nicht erreichen: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt.“

 

Das heutige Sonntags-Evangelium zeigt einen anderen und auch heute noch viel aktuelleren Zugang zu Gott auf. Schon der erste Satz macht nachdenklich. Jesus dankt und preist seinen Vater, weil er dies alles den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber geoffenbart hat. Was ist dies alles? Es ist jedenfalls nicht dies alles, was der Versucher Jesus zu geben versprach, wenn er ihn anbete. Dies alles ist das durch Jesus geoffenbarte Erkennen seines Vaters, also wahre Gottes-Erkenntnis, und darin eingeschlossen auch die Erkenntnis des Sohnes.

 

Und warum bleibt dies alles den Weisen und Klugen verborgen? Ist doch Weisheit eine kostbare Gabe des Heiligen Geistes und Klugheit eine der vier Kardinal-Tugenden, um die wir uns mühen sollen.

 

Wir müssen also unterscheiden: Offensichtlich stehen eine bestimmte Art von Weisheit und Klugheit des Menschen, der alles durchschauen und eigenmächtig beherrschen will, der Erfahrung im Weg, von Gott beschenkt zu werden, - ja, letztlich sogar darauf angewiesen zu sein, von Gott beschenkt zu werden. Da ich nur als Geschöpf Gottes existieren kann, müsste mir klar sein, dass alles, was ich bin, was ich kann und was ich habe nicht aus mir selber kommt. Es ist mir vom Schöpfer gegeben und somit auch aufgegeben.

 

Nun gibt es freilich auch gegen diese Tatsache nicht selten Unbehagen und Protest: Ich will nicht Geschöpf sein, weil ich dann abhängig bin von meinem Schöpfer. Wer will schon abhängig sein, erst recht in einer Zeit, da Diktatoren und Diktaturen ihre Untertanen in absoluter Abhängigkeit halten und so ihre Würde mit Füßen treten?

 

Die Versuchung, die Abhängigkeit vom Schöpfer zu ignorieren oder zu leugnen oder einfach abzuschütteln, ist die Ur-Versuchung des Menschen schlechthin; sie ist schon für die ersten Menschen im Schöpfungsbericht bezeugt: Der Versucher lädt ein, vom verbotenen Baum zu essen; er sagt: „Keineswegs werdet ihr sterben; ihr werdet selber sein wie Gott!“ Der Versucher verheißt absolute Freiheit!

 

Eigenmächtig nach dem Leben zu greifen und über alles Leben zu verfügen ist die Anmaßung, selbst nicht nur wie Gott zu sein, sondern Gott zu sein. Unabhängigkeit und Allmacht sind Eigenschaften Gottes. Autonome Weisheit und pragmatische Klugheit bedrohen den Menschen, die Gesellschaft, die Natur, das Weltall.

 

Ich wende mich jetzt den von Jesus gepriesenen Unmündigen zu, denen er Gottes-Erkenntnis offenbart. Es sind die Kinder, die sich auf ihre Eltern verlassen können und alle, denen es „die Red verschlagen hat“ - die sprachlos staunen vor der Schönheit der Natur und der berührenden Kraft der Kunst, die sprachlos glückselig sind, getroffen von Gottes Liebe; freilich auch alle, die sprachlos sind angesichts der Trostlosigkeit ihres Lebens, des hasserfüllten Terrors und der ungerechten Zustände in der Welt.

 

Ja, es gibt die Sprachlosigkeit des Jammers über das offensichtliche Elend der Welt. Wer dieses verspürt ist niedergedrückt von schwerer Last und geplagt von eigener Hilflosigkeit. Und genau denen gilt die sanfte Einladung Jesu: „Kommt alle zu mir, ihr werdet Ruhe finden. Nehmt meine Liebe an, lernt von mir! Meine Liebe drückt nicht nieder, sie richtet auf!“

 

Gottes Liebe triumphiert über das Gericht. Jesus ist nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten! So einen Erlöser werden wir doch nicht zurückweisen …