Erfüllte Zeit

15. 08. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Besuch Marias bei Elisabet“ (Lukas 1, 39 – 56)

von Regina Polak

 

 

Eine polnische Legende erzählt von einem Räuber, dem gehängt werden soll. Ehe ihm der Strick um den Hals gelegt wird, ruft er Maria an. Sie eilt herbei, stellt sich unter den Galgen und stützt drei lange Tage und Nächte die Füße des Gehenkten. Vermeintlich tot, wird er abgeschnitten – und läuft mit Dank an die Jungfrau davon.

 

Bis ins Hochmittelalter hinein gehörte Maria den Armen, den Ungelehrten, den einfachen Leuten, dem Volk. „Madonna der Spitzbuben“ hat man sie genannt: Madonna des verarmten Landproletariates, das mit den Eigentumsgesetzen der Mächtigen ständig in Konflikt geriet.

 

Die Theologin Dorothee Sölle erzählt vieler solcher Legenden, in denen die Gottesmutter auf der Seite von Menschen steht, die nach traditionellem Verständnis moralisch doch etwas fragwürdig handeln: sie unterstützt Diebe, Räuber, entlaufene Mönche und Nonnen. Eine Äbtissin bekommt ein Kind – und Maria hilft als Hebamme aus. Eine Nonne flieht aus dem Kloster - und Maria vertritt sie jahrelang im klösterlichen Dienst.

 

In all diesen Legenden wird eine Maria sichtbar, die etwas mit Gott erlebt haben muss, dass sie frei, mutig und auch etwas unkonventionell handeln ließ.

 

Maria hat die Gerechtigkeit Gottes erfahren. Sie hat im eigenen Leben erlebt, dass Gott auf der Seite der Ohnmächtigen, der Erniedrigten steht: dass Gott auf ihrer Seite steht, auf der Seite eines jungen und mittellosen Mädchens, das unverheiratet schwanger wird.

 

Der Evangelist bringt Marias Erfahrung in der Sprache der jüdischen Tradition zum Ausdruck: Maria zitiert das Danklied der kinderlosen Hanna, als diese ihren lang erbeteten Sohn Samuel dem Herrn anvertraut. Auch Hanna preist die Gerechtigkeit Gottes: „Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt Euch herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt.“

 

Maria stellt sich in die Tradition all jener, die in erniedrigender Lebenssituation Gottes Gerechtigkeit erfahren haben und preisen. Dieser Lobpreis durch die Zeiten ist eine bleibende Verheißung, nicht bloß ein Trost! Gott wird die Welt – mit unserer Hilfe – verwandeln und für gerechte Verhältnisse sorgen.

 

Maria singt das Lied von einer weltumspannenden Gerechtigkeit. Von einer Gerechtigkeit, die auf der Seite der Schwachen, der Erniedrigten, der Ohnmächtigen und Armen steht. Das Magnificat - einer der großen Texte der christlichen Überlieferung – ist so ein spirituelles Stärkungsmittel für alle, die im Dunklen sitzen – ein Lied, das ihnen zusagt, dass es einen Weg aus dem Dunkel gibt.

 

Maria hat die Schöpfungskraft Gottes erfahren. Gott ist der Schöpfer des Lebens, das in ihr heranwächst. Gottes Schöpfungsmacht erfahren aber heißt in der jüdischen Tradition immer auch: Die Gerechtigkeit eines Gottes erfahren, der alle Macht- und Gewaltverhältnisse umgestaltet. Die Mächtigen werden vom Thron gestürzt, die Erniedrigten erhöht, die Gewalt erfahren, werden befreit. Erniedrigte wie das junge Mädchen Maria – und mit ihr das verarmte jüdische Volk – sind Gottes geliebte Söhne und Töchter.

 

Lied Marias nimmt das Herzstück der Botschaft Jesus vorweg – und wiederholt es. Als dieser Text verfasst wurde, war Jesus ja bereits gekreuzigt worden und auferstanden. Jesu Leben wird im Lied Marias als Beginn einer weltweiten Gerechtigkeit gedeutet.

 

In dieser Erfahrung steht Maria, als sie der alten und so lange unfruchtbaren Elisabeth begegnet. Zwei jüdische Frauen, die beide ein Wunder erleben. Die eine alt und ein Leben lang unfruchtbar – eine Schande zur damaligen Zeit. Die andere – jung und unverheiratet – auch dies eine Schande. Und beide werden gerettet von der großen und lebensbejahenden Kraft und Liebe Gottes. Kein Wunder, dass das Kind im Leibe Elisabeths hüpft vor Freude – und Maria zu singen beginnt. Beide Frauen haben verstanden: Mit Jesus, dem Kind im Leib Marias, erweisen sich Gottes Verheißungen ein für alle mal und unwiderruflich als wahr.