Erfüllte Zeit

07. 09. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Von der Verantwortung für den Bruder“ (Matthäus 18, 15 – 20)

von Pfarrer Helmut Schüller

 

 

Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einer Frau aus meiner Gemeinde, die mir, als ich sie fragte, warum wir einander am Sonntag so selten sehen, gemeint hat: “Ich geh dort nicht mehr hin, denn dort reden alle über mich, aber niemand mit mir über das, was sie stört an mir.“

 

Alltag christlicher Gemeinde hat auch solche Schwächen und das Matthäusevangelium überliefert uns erste Versuche einer Gemeindeordnung, das heißt eines Umgangs miteinander, auch in den Krisensituationen, in den Konfliktfällen. Das Matthäusevangelium gibt eine solche Gemeinderegel weiter und wir merken, dass das Christentum im Alltag angekommen ist. Es geht nicht nur darum, das Evangelium weiterzusagen und dass die Gemeinde wächst und dass man Freude am Glauben hat, sondern es stellen sich die Fragen des Alltags, die Konflikte des Alltags. Es gibt Streitigkeiten und Spaltungen. Und es gibt auch das Problem, wie umgehen damit, dass einer oder eine nicht den Weg des Evangeliums geht, sich vielleicht dagegen versündigt, schuldig macht, auch unter Umständen an der Glaubwürdigkeit der Gemeinde sich versündigt, schuldig wird. Und wir spüren diese Spannungen in diesem ganzen Text, denn letztlich geht es ja darum, fast nicht vereinbare Forderungen zu vereinbaren. Einerseits der Umgang mit dem Menschen als Bruder, als Schwester, bis zum letzten Verfahren, Schritt sozusagen und darüber hinaus und andererseits aber doch die Deutlichkeit, mit der gesprochen werden muss und gelebt werden muss, die Aufrichtigkeit, die Unbeirrbarkeit, auch die Kantigkeit mit der Christen und Christengemeinden das leben sollen, was ihnen das Evangelium aufträgt. Und daher auch nicht der Frage ausweichen können: “Was ist, wenn das einer nicht mehr tut?“

 

Aber es sind einige bemerkenswerte Dinge an diesem frühen Gemeindeverfahren. Da ist einmal die Anrede, oder die Rede auch vom Bruder. Das ist ein ganz bestimmter Blick auf den Menschen. Er ist nicht einfach ein anderer oder ein Gemeindemitglied oder einer, den man halt mitzählt, sondern er ist und bleibt der Bruder. Das haben sie von Jesus gelernt. Jeder Mensch, jeder Mann ist ein Bruder, jede Frau ist eine Schwester, was immer geschieht, der Mensch bleibt Mitglied dieser großen, neuen Familie Gottes. Und dann diese sorgfältige Vorgangsweise, die auch von sehr viel Diskretion, von sehr viel Feingefühl zeigt: „Geh zuerst und sprich mit ihm unter vier Augen. Lass ihm die Chance, sich diskret im vertraulichen Gespräch zu erklären. Gib dir die Chance auch in der Diskretion, in der Vertrautheit zu sagen, was du ihm sagen willst. Wenn er nicht auf dich hört, dann nimm zwei weitere mit. Nicht zuletzt auch deshalb wahrscheinlich, weil ein anderer es besser sagen kann, was ich dir sagen möchte. Vielleicht hört er auch auf andere mehr. Natürlich auch, um das Bild objektiver zu machen, das entstehen muss und schließlich hol dann nicht den Gemeindeleiter, quasi als oberste Instanz, sondern sag es der Gemeinde“.

 

Interessant, dass hier die Gemeinde als ganzes einbezogen wird. Sie muss sich Mühe machen, sie muss zusammenkommen, sie muss beraten, sie muss mit ihm oder mit ihr sprechen. Und erst wenn alle diese Schritte getan sind, dann kann es notwendig sein, dass der Konflikt aufrecht bleibt, dass nicht auszuräumen ist, was an Widerspruch da ist, dass auch ein Zeichen gesetzt werden muss mit dem jemandem gesagt werden muss, du bist nicht auf dem Weg, den wir miteinander gehen wollen. Ein Signal auch zur Besinnung, zur Aufrüttelung.

 

Aber niemals geht es, das spürt man in diesem Text, um so etwas wie die Rettung einer reinen Gemeinde von störenden Elementen. Denn auch als Heide und als Zöllner bleibt er ein Bruder und bleibt auch im Gespräch. Dieser Text der Gemeindeordnung aus Matthäus ist auf uns gekommen in der heutigen Zeit, weil er ein wichtiges Stück Alltagsbewältigung der christlichen Gemeinde berichtet. Er berichtet auch von dieser Spannung, in der dieses Leben der Gemeinde immer stehen wird. Einerseits die große, in großer Liebe gestaltete Verbundenheit mit den Menschen in jeder Lebenssituation und andererseits doch die Deutlichkeit und die Klarheit und die Verpflichtung zur Wahrheit, der auch die christliche Gemeinde nicht ausweichen kann. Sie kann sich nicht mit allem anfreunden, mit allem einverstanden sein, der einzelne Christ nicht, die Christengemeinde nicht alles hinnehmen. Es ist Kritik zu äußern, es ist Wahrheit anzusprechen, auch unangenehme Wahrheit. Aber die Gemeinde bemüht sich, das alles in der Verbundenheit mit dem in Liebe gegenwärtigen Gott zu tun. Und: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Diese Gegenwart Gottes ist es auch, die hilft, in eines zu bringen, was so schwer vereinbar ist: Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe, Geschwisterlichkeit und Deutlichkeit, Kritik und Verbundenheit.