Erfüllte Zeit

23. 11. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Vom Weltgericht“

(Matthäus 25, 31 – 36)

von Michaela Moser

 

 

Der heutige Evangeliumstext wird oft als "Weltgerichtsszene" beschrieben. Als Text, in dem es um die "letzten Dinge" geht, als Schriftstelle also, die uns sagen will, was letztlich wichtig ist, worum es letztlich wirklich geht im Leben. Die Botschaft dabei ist sehr deutlich. Es geht, so sagt es der Text klipp und klar, um den konkreten und alltäglichen Dienst der Menschen aneinander.

 

Existenzielle menschliche Bedürfnisse und damit die menschliche Bedürftigkeit an sich werden als zentrale Themen im ganzen Matthäus-Evangelium deutlich. Gleich zu Beginn berichtet der Evangelist von der Geburt Jesu, von einem Gott also, der als Kind Mensch geworden ist, mit einem imponierenden Stammbaum versehen und doch so klein und verletzlich wie eine jede und ein jeder von uns. Sehr schnell wird die Fragilität des menschlichen Lebens – auch dieses Gottessohnes - noch deutlicher: Herodes will das neu geborene Kind töten, die Eltern müssen fliehen. Bedrohungs- und Fluchterfahrung also stehen ganz zu Beginn von Jesu Leben. Wir erfahren nicht, wer ihn und seine Eltern damals als Fremde in Ägypten aufgenommen hat, sichere Obhut jedoch müssen sie gefunden haben.

 

"Ich war hungrig, und ihr gabt mir nicht zu essen, ich war durstig, und ihr gabt mir kein Wasser zu trinken, ich war fremd, und ihr habt mich nicht aufgenommen, ich war nackt, ihr habt mich nicht gekleidet, ich war im Gefängnis und ihr seid nicht zu mir gekommen."

 

Die Jünger und Jüngerinnen, denen Jesus mit diesen Worten deutlich macht, woran sich christliche Nachfolge messen lässt, brauchen eine ganze Weile um ihn zu verstehen. Oder zumindest tun sie so.

"Wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt gesehen und nicht für dich gesorgt", fragen sie und wollen nicht erkennen, dass es Jesus nicht um sich selbst geht und nicht darum, wie sie sich ihm, dem Messias gegenüber verhalten haben, sondern vielmehr, wie sie als Menschen miteinander Umgang pflegen.

 

JüngerInnenschaft, so sagt uns diese Bibelstelle, bedeutet Dienst an den Geringsten, umfassende Sorge um das Wohlsein jedes Menschen also. Jesus, der menschgewordene Gottessohn weist dabei nicht nur abstrakt auf die Notwendigkeit dieser Dienste hin, er zeigt sich vielmehr auch selbst und ganz konkret in all seiner Bedürftigkeit. Und macht uns damit deutlich, dass diese Bedürftigkeit Teil unseres Menschseins ist, wir folglich als Menschen genauso aufeinander verwiesen sind wie wir fähig sind, füreinander zu sorgen. In einer Zeit, in der die Meinung, dass jede und jeder für sein eigenes Glück allein verantwortlich sei, Hochkonjunktur hat, klingt das nach einer reichlich altmodischen Botschaft. Moden jedoch spielen schlicht keine Rolle, wenn es darum geht, uns darauf zu besinnen, was es wirklich braucht, um in all unserer Verschiedenheit und all unserer Bedürftigkeit gut miteinander leben zu können. Das heutige Evangelium lehrt uns die Sorge füreinander an erste Stelle und über alles andere zu stellen und unsere Gesellschaft folglich entsprechend zu gestalten:

 

Für unser Leben hier in Österreich, einem reichen Land, in dem dennoch fast eine halbe Million Menschen in akuter Armut lebt, gibt es sehr viel zu tun, damit es dem in die heutige Zeit übersetzten Evangelium gemäß für alle heißen kann: „Ich wurde in schwierige Verhältnisse geboren und Ihr habt mir die größtmöglichen Bildungs- und Entwicklungschancen gegeben. Ich bin geflohen, und ihr habt mich ohne nach meinen Papieren zu fragen, aufgenommen. Ich war krank und Ihr habt mir ohne Blick auf Status oder Kontostand die optimale Behandlung ermöglicht. Ich habe keinen Arbeitsplatz gefunden und Ihr habt mir ohne erniedrigende Kontrollen jene Unterstützung gegeben, die mir ein Leben in Würde ermöglicht. Ich habe meinen finanziellen Möglichkeiten überschätzt und ihr habt mir einen Teil meiner Schulden erlassen. Ich war deprimiert oder verwirrt und Ihr habt nicht irritiert weggeschaut, sondern seid zu mir gekommen und habt mit mir Wege aus meiner Krise gesucht. Ich bin bettelnd vor Euch gesessen und Ihr habt mich nicht fest- sondern ernstgenommen, als eine, die hungrig nach Nahrung und Möglichkeiten sucht. Ich wurde erniedrigt und Ihr habt mir Recht und Respekt verschafft. Ich wurde ausgegrenzt und Ihr habt für gesellschaftliche und politische Strukturen gesorgt, die allen Entfaltung, Teilhabe und Mitgestaltung möglich machen.