Erfüllte Zeit

14. 12. 2008, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Dona Rita lebt in der Favela. Die Armut ist groß. Oft genug haben die Kinder nichts zu essen. Morgen für Morgen verlässt Dona Rita das Haus und geht zur Arbeit in ein reiches Viertel der Stadt. Dort ist sie Hausbedienstete. Ihre Arbeit tut sie gewissenhaft. Eines Tages bietet man ihr zu Mittag ein herrliches, reichhaltiges Menü an. Doch Dona Rita rührt den Teller nicht an. Sie weint nur. Nach einiger Zeit bringt man ihr ein Glas Cajú-Saft. Auf die Frage: „Dona Rita, warum essen Sie denn nicht? Warum schauen Sie denn nicht mal die guten Sachen an?“ , antwortet sie nur: „Meine Kinder zu Hause haben Hunger. Wie soll ich da was essen können, wenn die nichts haben?“

„Was soll das denn?“, fährt ihr ein Kollege in die Parade. „Hast du denn keinen Hunger?“
„Natürlich habe ich Hunger“, antwortet sie.
„Dann iss doch auch. Was hat denn das mit deinen Kindern zu tun? Iss dich satt, dann geht dir die Arbeit besser von der Hand, und zu Hause kannst du auch noch was tun.“
„Nein, heute esse ich nichts“, wehrt sich Dona Rita entschieden. „Wenn ich das hier essen würde, bekäme mir das nicht. Lieber fühle ich, was meine Kinder fühlen, Hunger, als das hier auch nur anzufassen. Was für eine Mutter wäre ich sonst! Ich will doch nicht aufhören, Mutter zu sein, bloß wegen eines Tellers zu essen!“

Dona Rita kann sicher nicht definieren, was Solidarität ist. Aber sie lebt sie konsequent, im tiefsten und radikalsten Sinn des Wortes. Auf der Ebene, auf der sich die Menschen mit dem Los der anderen identifizieren, im Leiden und in der Freude, im Schmerz und im Hunger, in Demütigung und Hilflosigkeit, da erweist sich Solidarität.

„Ich habe keine Angst davor, dass ich mal nichts zu essen auftreibe“, sagte mir ein Bettler auf der Straße. „Irgendwas krieg' ich immer. Angst habe ich davor, einsam zu sein.“ Solidarität verhindert, dass jemand mit seinem Hunger allein dasteht. Ein Schwacher und ein Schwacher sind nicht zwei Schwache. Ein Schwacher und ein Schwacher gibt einen Starken, vorausgesetzt, zwischen den beiden herrscht ein Mindestmaß an Solidarität, welche die Einsamkeit verjagt und Einheit schafft. Einheit macht bekanntlich stark.

Ob die Menschheit ohne solch eine Einstellung überhaupt noch menschlich sein kann? Ohne elementare Solidarität gehen wir weiter aggressiv auf die Natur los. Wenn wir uns nicht endlich mit jedem Element des Weltalls identifizieren, wenn wir uns nicht endlich selbst als Teil der Sonne fühlen, des Mondes und der Sterne, der Wolken und der Vögel, der Bäume und der Blumen, des Goldäffchens und des Ameisenbärs in unseren tropischen Wäldern oder des chinesischen Pandabärs, den vor allem Frauen ja so sehr mögen, wenn wir nicht endlich die Erfahrung der Nichtdualität mit den Menschen, mit den Armen und Hungernden zumal machen, dann werden die schmerzlichen Kreuzwege kein Ende haben in der Welt bis zum Jüngsten Tag.

Wenn jedoch Solidarität zwischen den Menschen aufblüht, dann, ja dann werden wir uns alle gegenseitig achten und ehren, ehren und lieben, lieben und uns mit allem und mit allen als eine Einheit verstehen. Alles wird dann gerettet sein, weil es nun doch noch kraft des Herzens verbunden und rück-gebunden ist. So gesehen ist selbst der Hunger zu ertragen, weil er dann nicht mehr der Hunger nur eines Menschen in seiner Einsamkeit ist. Mengen stehen ihm zur Seite, insofern der Mensch dann die Welt immer solidarisch bewohnt. Aus diesem Grund ist niemand, ist nichts eine Insel, nicht einmal ein Meteor, der durch den Weltraum schießt. Alle gehören wir uns gegenseitig, alle befinden wir uns innerhalb eines wohltuenden Kraftfeldes, alle sind wir das Universum, das fühlt, denkt, liebt, sich solidarisiert und Ehrfurcht praktiziert.

 

Aus: Leonardo Boff, Am Rande des Himmels. Geschichten von Gott und Welt. Patmos Verlag, Düsseldorf 1997.