Erfüllte Zeit

03. 05. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der gute Hirte schafft Gemeinschaft“ (Johannes 10, 11 - 18)

von P. Dr. Bernhard Eckerstorfer

 

 

In der Osterwoche war ich mit der Maturaklasse unserer Klosterschule in Rom. Wir besuchten die Kirche Santa Maria in Trastevere, die für ihr Apsismosaik berühmt ist. Darauf sind wie auf vielen Mosaiken römischer Kirchen Schafe zu sehen. Die Gemeinschaft von Sant’Egidio singt in dieser Kirche öfters den Hymnus des buon pastore, des guten Hirten. In einer Strophe wird Jesus in den Mund gelegt:

 

Do la vita per le mie pecore,

sono deboli, inferme, perdute,

in un solo ovile raccolte,

saran gregge di un solo pastore.

Ich gebe das Leben für meine Schafe

sie sind so schwach, krank, verloren.

In einem einzigen Schafstall gesammelt

werden sie die Herde des einen Hirten sein.

 

Dieser Hymnus spiegelt das heutige Evangelium wieder: Jesus Christus ist der Hirt, der die Seinen kennt und dem die Schafe vertrauen. Er hat für seine Herde alles getan. So ist das Kreuz der radikalste Ausdruck der Hirtensorge Jesu: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Von daher erhält er seine natürliche Autorität, die in römischen Kirchen eindrucksvoll in den erhabenen Christusmosaiken ihren Niederschlag gefunden hat. Diese Darstellungen vermitteln nichts Bedrohliches, denn Christi Autorität verdankt sich der Hingabe an die Seinen. Auctoritas kommt von augére – Leben fördern, Leben mehren.

 

Die Blicke meiner Schüler richten sich erwartungsvoll und doch befremdet auf die Christusfiguren, und wir fragen uns: Was sagen uns diese kunstvollen Mosaike? Wie wird heute der gute Hirte lebendig?

 

Die Antwort erschließt sich für uns in Santa Maria in Trastevere selbst. Die Gemeinschaft Sant’Egidio setzt sich für die Weitergabe des Evangeliums ein und steht im Dienst an den Armen. Zu Weihnachten baut die Gemeinschaft diese Basilika in einen riesigen Speisesaal um. Hier, wo täglich die Eucharistie gefeiert wird, gibt es dann ein großes Festmahl für Obdachlose, Einsame, Alte, die sonst niemanden haben, mit denen sie Weihnachten feiern können. Das fasziniert meine Schüler und mich. Mit den Obdachlosen und Armen der Stadt Rom können auch wir verstehen: Das alte Mosaik mit den Schafen und dem gold leuchtenden Christus bekommt eine Relevanz, indem Christen heute als Hirten auftreten.

 

Wenn Jesus im Evangelium sagt: „Ich bin das Licht der Welt“ und an einer anderen Stelle: „Ihr seid das Licht der Welt“, dann können wir auch das Bild des guten Hirten auf uns beziehen: „Ich bin der gute Hirt“ – „Ihr seid die guten Hirten“. Der auferstandene Herr sagt zu Petrus: „Weide meine Schafe.“ (21,15-19) Und im ersten Petrusbrief werden die Leiter in der Kirche ermahnt: „Sorgt euch wie Hirten für die euch anvertraute Herde.“ (1 Petr 5,2) In der Nachfolge des Herrn sind wir alle – als Getaufte – beauftragt und befähigt, einander zu kennen, beim Namen zu rufen und unser Leben für die anderen einzusetzen: Die Mutter für ihre Kinder, der Lehrer für die Schüler, die Eheleute füreinander. Für uns alle bleibt aber Christus der „oberste Hirte“ (1 Petr 5,4).

 

Christentum kann gerade heute nur dann leuchten, wenn die Jüngerinnen und Jünger Jesu von ihm her füreinander sorgen und eintreten. Bei Sant’Egidio wird das augenfällig, wenn Priester wie Laien die Obdachlosen zu Weihnachten in der Kirche bewirten. Ebenso wirkt Christus als der Hirte durch uns im Alltag – oft unerkannt, aber deshalb nicht weniger wirksam. Entscheidend ist hier der Glaube, dass letztlich nicht alles wir machen können und müssen, sondern ein anderer über allem steht und wacht und uns sein Leben gibt.

 

Mit diesen Gedanken für die heutige Evangeliumsauslegung bin ich von Rom nach Kremsmünster zurückgekehrt. Da entdeckte ich die Botschaft des heutigen Evangeliums in einer bemerkenswerten Begegnung: Vor einigen Tagen besuchte ich eine mir bekannte Familie. Die Jugendlichen stellten mir ihre Großmutter vor. In einem Gespräch erzählte sie mir, wie stolz sie auf ihre Enkelkinder sei. „I bet so sehr“ – sie machte eine Pause. Ich dachte spontan, sie wolle mir jetzt sagen, sie bete für ihre Enkel – dass sie einen sicheren Arbeitsplatz finden, einen guten Partner, dass diese jungen Menschen gesund bleiben. Das alles war der Großmutter sicher ganz wichtig; aber eines ging ihr über alles: „I bet so sehr, dass meine Enkerl den Glauben nie verliern!“ Diese schlichten Worte der Großmutter berühren mich. Sie ist offensichtlich die gute Hirtin der Familie und sie hat begriffen, dass ohne den guten Hirten unser Leben sinnlos ist.