Erfüllte Zeit

14. 06. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Gleichnisse vom Wachsen der Saat und vom Senfkorn“

(Markus 4, 26 – 34)

Von Gustav Schörghofer

 

 

Die Nußdorfer Straße in Wien ist wirklich keine schöne Straße. Auch das Geburtshaus von Schubert ändert da nichts daran. Die meisten anderen Häuser sind hohe und ein bisschen gar zu ernste Gestalten der Zeit um 1900. Die Straße ist breit, laut, stark befahren. An ihrem Ende wird sie vom Stadtbahnbogen Otto Wagners überspannt. Der ist wirklich schön. Aber sonst – ich würde dort nicht wohnen wollen.

 

Manchmal gehe ich zu Fuß durch die Nußdorfer Straße stadtauswärts. Sie macht einen Bogen, steigt leicht an und auf einmal treten die Häuser nach der Ferne zum Stadtbahnbogen hin auseinander und über ihnen ist der Himmel groß und weit. Eine ganz normale und gar nicht bemerkenswerte Wirklichkeit öffnet sich mit einem Mal und wandelt sich ins Wunderbare, Zauberhafte.

 

Kinder haben für die Erscheinung des Zauberhaften im Alltäglichen einen feinen Sinn. Der erste Schnee, ein Stück Holz, die Farben der Dinge könne Offenbarungen sein. Paul ist keine drei Jahre alt und von der U-Bahn vollkommen begeistert. „Weißt du, zuerst hörst du ein leises Donnern, dann kommt der Wind, dann das Licht, und dann ist sie da“. So beschreibt er die Einfahrt der U 3. Das ist eine nüchterne Beschreibung von Vorgängen. Und es könnte aus der Bibel sein, die Beschreibung einer Gotteserscheinung. Mitten ins Gewöhnliche des Alltags bricht das Wunderbare ein.

 

Ob ich um die Ecke gehe und einen strahlenden Engel vor mir habe oder eine winzig kleine graue Maus, das ist vom christlichen Standpunkt aus gesehen gleich. Beim Engel werden alle aufschreien und die Augen aufreißen. Die Maus hat bei manchen denselben Effekt. Aber die allermeisten werden sie übersehen. Dabei ist sie nicht weniger ein Wunder als der Engel. Der Unterschied ist, dass sich das Wunder in der Maus versteckt hält und erst entdeckt werden muss. Im Engel springt es mir unübersehbar entgegen. Aber auch eine so mächtige Erscheinung wie die U3, wer kann sie so erfahren wie der kleine Paul?

 

Jesus spricht vom Reich Gottes. Das ist etwas Großes, Wunderbares, Zauberhaftes. Es wird von Jesus in lauter kleinen Dingen versteckt. Das Säen des Samens und das Wachsen der Pflanze, Senfkorn und Vögel und vieles andere. All das wird den Jüngern von Jesus auch noch erklärt. Aber was nützen die schönsten Erklärungen, wenn die Leute keinen Sinn haben für den Zauber der kleinen Dinge. Es geht bei all diesen Gleichnissen ja nicht bloß darum, eine Lehre zu verkünden.

 

Wichtiger ist, zuerst den Sinn für die Herrlichkeit der kleinen Dinge zu wecken. Wer das nicht sieht, dem bleibt Gott und sein Geheimnis fremd, unzugänglich.

 

Der Sämann ist ein schönes Bild und ziemlich vertraut. Vincent van Gogh hat ihn hinreißend gemalt. Und dann dieser Satz: „Er schläft und steht wieder auf, es wird Tag und wird Nacht, der Same keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie.“ Ich sitze still da, tue nichts, schau in die Welt hinein und weiß: Alles das wächst und gedeiht ohne mein Zutun, es wird getragen und ist geborgen in einer Obhut, die nicht die meine ist. Wer die Welt so sehen kann, vertraut sich ihr an. Er vertraut sich ihrem Geheimnis an und weiß, es kann ihm nichts passieren.

 

Der Same keimt und wächst, und ich weiß nicht wie. Diese Erfahrung kann ich Tag für Tag in den kleinsten Dingen machen. Wie viel geschieht ohne mein Zutun. Ich muss es nur sehen. Das Wunder springt aus den kleinsten Dingen und verbirgt sich zugleich in ihnen.

 

Die Gegenwart Gottes verbirgt sich in seiner scheinbaren Ferne. Stellen Sie sich doch einmal hin auf den Bahnsteig der U 3. „Zuerst ist da ein leises fernes Donnern, dann kommt der Wind, dann das Licht – und dann ist sie da.“