Erfüllte Zeit

21. 06. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Sturm auf dem See“

(Markus 4, 35 - 41)

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

„Jesus-Boot gefunden!“ So lauteten die Schlagzeilen, als man im Jahr 1986 ein antikes Schiffswrack in Israel entdeckte. Seine spektakuläre Bergung aus dem See Gennesaret schlug nicht nur Archäologen in den Bann, sondern zog auch Scharen von Touristen an. Fernsehteams aus aller Welt waren dabei, als das Boot – mit Polyurethan-Schaum stabilisiert – an Land gehievt wurde. Bis Ende der 90er-Jahre lag es dann in einer Konservierungsbaracke des Kibbuz Ginnosar. Dort konnte ich es mit Studierenden der Religionspädagogischen Akademie Wien-Strebersdorf besichtigen. Eine israelische Reiseleiterin, die uns für die Exkursion zugeteilt ist, erklärt werbewirksam seine Bedeutung: „Mit diesem 2000 Jahre alten Boot, 8 Meter lang und mehr als 2 Meter breit, fuhren vielleicht die Jünger Jesu zum Fischen.“ Und weil christliche Pilgergruppen es an dieser Stelle nur zu gerne hören, setzt sie noch den brav eingelernten I-Tupfen drauf: „Von so einem Boot aus hat Jesus auch den Sturm auf dem See gestillt!“

 

Das ist die eine Möglichkeit, mit dem Bibeltext des heutigen Sonntags umzugehen: Dinglich, handfest, faktisch. Auch ohne einen sensationellen Bootsfund – über Jahrhunderte hin und reich an Varianten so geschehen auf den Kanzeln vieler Kirchen. Die Wundergeschichte wurde nacherzählt und bis ins Detail ausgemalt, jedenfalls als absolut historisches Ereignis genommen. Durchaus zu untermauern mit Tatsachen: Dass nämlich der See Gennesaret mehr als 200 Meter unter dem Meeresspiegel liegt; dass vom Libanon-Gebirge und den syrischen Höhen her plötzlich heftige Fallwinde auftreten können; und dass ein Boot bei hohem Wellengang schwer zu manövrieren ist, vielleicht sogar kentert.

 

Szenenwechsel: Vom See Gennesaret nach Wien.

„Dieser Jesus“, der Siebzehnjährige macht auf ultra-cool, „ist er denn ein Super-Magier, der ein Sturmtief in ein windstilles Hoch verzaubern kann?“ Auch andere schießen los: „Müssen seine Jünger dafür herhalten, dass er seine Show abzieht? Ist er ein deus ex machina, der immer dann auftritt, wenn nichts mehr geht?!“ Mit Einwänden wie diesen haben mich damals meine Schülerinnen und Schüler konfrontiert, vor dreißig Jahren, als ich noch am Gymnasium Wien-Bernoullistraße unterrichtete. „Wenn im Boot schon das Wasser steht, wie kann er da schlafen? Und überhaupt: Woher weiß denn Markus, was Jesus tat und sagte?!“

 

Provokant waren sie schon, ihre Fragen, aber logisch. Nicht immer haben wir Antworten gefunden, fast immer aber sind wir von der Oberfläche auf den Grund gekommen. Denn das ist die andere Möglichkeit, dem Bibeltext des heutigen Sonntags zu begegnen: Das damals Erzählte von innen her verstehen, sich auf seine Symbole und ihre Tiefe einlassen zu wollen. Zunächst einmal genau zu lesen, was der erste Evangelist wirklich geschrieben hat, wovon er und seine Gemeinde überzeugt sind.

 

Denn schon der meist gewählte Titel „Der Sturm auf dem See“ geht an dem vorbei, was Markus betonen will. Denn im griechischen Original steht „Thálassa“, was nicht „See“ heißt, sondern „Meer“, „mare“ im Latein der Vulgata. Und „Meer“, hebräisch „Iam“, ist an vielen Stellen der Bibel kein geographischer Begriff, sondern ein mythischer. „Iam“: Das ist die Chaos-Macht, die von IHWH schon in der Urzeit besiegt worden ist – eine Vorstellung, die Israel aus der kanaanäischen Mythologie übernommen hat. Und erst recht der Durchzug durch das „Iam Suf“, das „Schilfmeer“: Grandios verdichtet im Buch Exodus, dem Ursprung von Israels Glauben! Besungen auch im Psalm 107, wo es von IHWH heißt: „Er machte aus dem Sturm ein Säuseln, so dass die Wogen des Meeres schwiegen“. „Iam Kinneret“ lautet bis heute der hebräische Name für den See Gennesaret, das „Harfen-Meer“, weil es diesem Instrument ähnlich ist.

 

„Iam Lev“, so nenne ich persönlich den See Gennesaret, „Herzens-Meer“. Weil seine Form einem Herzen gleicht, aber noch viel mehr,  weil mein Herz an dieser Region hängt, „der anmutigsten des ganzen Landes“, wie Schalom Ben-Chorin in seinem Buch „Bruder Jesus“ einmal schreibt. „Iam Lev“, „Herzens-Meer“: Wie oft hat es mich angezogen, wie gern bin ich darin geschwommen, an seinem Ufer gesessen, lachend, meditierend…

 

„Lev Iam“: Immer mehr ist auch das für mich stimmig: „Das Herz, mein Herz ist ein Meer“. Es trägt seine Weite in sich, ahnt seine Unendlichkeit, spürt seine Tiefe. Es beginnt zu tosen, wenn der Gefühle Wellen sich aufschaukeln, der Sturm der Liebe hereinbricht. Je ehrlicher ich zu mir selber werde, desto mehr bedroht mich aber auch die Flut meiner Sorgen,  packt mich der Abgrund der Ängste, nicht nur in den Träumen der Nacht.

 

Mein Herz, dieses aufgewühlte Meer: Seltsam, was mit ihm geschieht, wenn es sich vom heutigen Evangelium leiten lässt. Es tritt an die Gestalt dieses schlafenden Jesus heran und ruft: „Didáskale – Lehrer!“ Und dann anklagend, vorwurfsvoll: „Kümmert es dich nicht, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht? So tu doch endlich was, rette mich!“

 

Die Wogen meines Herzens glätten sich nur langsam. Es wartet. Doch keine feste Hand packt meinen Arm, keine Stimme von außen ertönt. Innen regt sich etwas, tief innen. Sanft wie ein Lächeln und hell wie offene Weite: „Noch nicht, noch immer nicht hast du Vertrauen?!“