Erfüllte Zeit

28. 06. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Auferweckung der Tochter des Jairus und die Heilung einer kranken Frau“ (Markus 5, 21 - 43)

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

„Talita kum“: Diese zwei Worte klingen in mir nach. Stammen sie doch aus dem Aramäischen, also jener Sprache, in der Jesus geredet, gebetet und wohl auch geheilt hat. Die aramäische Sprache lebt nur mehr in ganz wenigen Orten weiter. Maalula ist einer davon, etwa 50 Kilometer nordwestlich von Damaskus, laut buntem Werbeprospekt das „schönste Dorf Syriens“. Heuer zu Ostern konnte ich es mit einer Bibelreisegruppe besuchen. Und wirklich: Seine Terrassenhäuser, blassblau gestrichenen, schmiegen sich äußerst fotogen an die rötliche und steil aufragende Felswand des Qalamun-Gebirges.

 

„Talita kum“: Das müsste doch in Maalula, dieser winzigen Sprachinsel im Meer des Arabischen, verstanden werden. So dachten wir jedenfalls. Aber als wir einer Gruppe von Schülerinnen die zwei Worte zurufen, ernten wir nur verstörte Blicke. Erst nach einigem hin und her stellt sich heraus: Sie kommen aus Kreta und besuchen hier im Ort „Mar Thekla“, das Kloster der berühmten Paulus-Schülerin. Doch wenigstens das Alter der Mädchen stimmt; sie könnten zwölf sein, wie die Tochter des Jairus.

 

„Talita kum“ – „Mädchen, steh auf!“ So die Einheitsübersetzung, die wir eben gehört haben. Blutleer, viel zu dünn! Denn Markus, dieser großartige Theologe, sagt im Original seines Evangeliums wesentlich mehr. Nämlich zuerst „égeire“ – „aufersteh!“ und dann „anéste“ – „auferstand sie“. Er setzt hier dieselben zwei griechischen Vokabeln ein, mit denen er auch die Anastasis Kyriou, die Auferstehung des Herrn in Worte zu fassen sucht.

 

„Mädchen, aufersteh!“ Das sogenannte ‚Mädchen’ ist zwölf Jahre alt, wie sich erst am Ende der Geschichte herausstellt. Es ist also gerade in dem Alter, in dem vielleicht auch Maria dem Josef in Nazaret anverlobt wurde, weil sie zu einer erwachsenen, heiratsfähigen Frau gereift war. Mit zwölf: An diesem bedeutenden Übergang ihrer Existenz, da geschieht es, dass sie liegen bleibt. Sie verstummt, kein Satz in der Bibel ist uns von ihr überliefert. „Des Jairus Tochter“: Sie, ein Mensch ohne eigenen Namen, sie weiß nicht mehr zu leben. „Tot“, sagen die Leute…

 

„Mädchen, aufersteh!“ Ehe Jesus diese zwei Worte sagt, fasst er ihre Hand. Die griechische Formulierung, die Markus für „fassen“ gewählt hat, lautet „krateín“. Das heißt eigentlich „mächtig sein, kraftvoll, stark sein“. Wirkmächtig hält Jesus ihre Hand, seine Lebenskraft fließt über zu ihr, sein Vertrauen erweckt ihre Unsterblichkeit. Er befreit sie „von den Fesseln, die der Vater ihr unbewusst angelegt hat“, wie Anselm Grün und Maria Robben in ihrem Buch „Finde deine Lebensspur“ ausführen. Jesus befreit sie „vom Über-Ich des Synagogenvorstehers, von der Macht der frommen Befehle, die sie in ihrem Unbewussten gespeichert hat. Sie traut sich, den eigenen Weg zu gehen, ohne den Vater zu fragen, ob es gut sei, ob sie das dürfe oder nicht.“

 

Zwölf Jahre: Das ist die Zeit, nach der das Mädchen zu sich selber findet. Zwölf: Eine vollkommene Zahl, unüberbietbar. Unendlich aber auch als Schattenzeit, wie im Fall der Frau, die an Blutungen leidet, zwölf mal zwölf lange Monate. Eine weibliche Leidensgeschichte, „Passion“ ganz wörtlich. Berührend hat sie Markus zwischen der Bitte des Jairus und der Heilung seiner Tochter eingeschoben.

 

„Verausgabend das Ganze von ihr“: Als ich diesen Vers im „Münchener Neuen Testament“ – einer sehr wortgetreuen Übersetzung – lese, stocke ich. Natürlich, primär ist damit ihr Geld und Vermögen gemeint, das die Frau an Honoraren ausgegeben hat. Ärzte kosten. „Verausgabend das Ganze von ihr“: Dieser Satz packt mich auch aus einem anderen Grund. In meinem Umfeld werden es nämlich immer mehr, die so etwas erleiden, vor allem in jüngster Zeit. Leere, Depression, affektive Störung, Burn-out – oder wie immer die Diagnose lautet.

 

„Verausgabend das Ganze von ihr“: Da sitzt vor mir in der Therapie eine Frau, 48, also viermal zwölf Jahre alt: „Ich will“, sagt sie, „ich will es allen recht machen. Ihm, meinem Mann, der im Beruf aufgegangen und jetzt fortgegangen ist, zu einer Jüngeren.“ Sie stockt kurz. „Ich opfere mich auf für meine Kinder. Ich versuche, auch in der Firma alles zu geben. Aber ich habe mich verloren. Ich spüre mich nicht mehr.“ Sie beginnt zu weinen. „Immer nur geben, das geht an die Substanz. Ausgeronnen bin ich, wie wenn ich dauernd die Regel hätte. Ich verblute.“ Sie schweigt, betroffen von ihrer Wunde, die sie erkennt, die sie anschaut. Ein Prozess, lang und schmerzhaft, hat begonnen. Der Weg zu sich selbst, zur Heilung.

 

Wieder zurück zur Bibel, zum heutigen Evangelium: „Und sie erkannte am Leib, dass sie geheilt ist von der Plage.“ Ist er nicht großartig, dieser Markus? Als hätte er Ganzheitsmedizin studiert, oder Psychosomatik, ein paar Semester wenigstens. Der erste Schritt: Sich selbst erkennen, sich wahr- und annehmen. Dann sich wirklich spüren, sinnlich, leiblich, „leib-haftend und seel-fühlig“, wie ich es nennen will. Und schließlich „sanata a plaga“, wie der lateinische Text lautet, geheilt zu werden von dem, womit ich „mich plage“, „mich kränke“, „mich verletze.

 

„Und es vertrocknete die Quelle ihres Blutes.“ Markus bringt es exakt auf den Punkt: Das einzige Mal in seiner ganzen Evangelienschrift, nur hier verwendet er das Wort „Pegé“ – „Quelle“. Dort, wo das Leiden entspringt, dort allein kann und muss Heilung sich ereignen, zutiefst und ganz.