Erfüllte Zeit

19. 07. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

von Helga Kohler-Spiegel

 

 

Es ist eine aufregende Zeit, die Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern in Galiläa verbringt. Ein Sturm, der fast einen Schiffbruch verursacht hätte, ein Mann, den Dämonen besetzen, eine Frau, die seit 12 Jahren an Blutfluss leidet, ein Mädchen, das sehr jung verstorben scheint…. Jesus heilt, Jesus rettet, die Menschen sind fasziniert von ihm, sie sind aber auch irritiert, sie wollen seine Nähe, sie weisen ihn aber auch ab. Vertrauen und Glaube, Misstrauen und Ablehnung, beides liegt Jesus gegenüber ganz nah beieinander. Es scheint, als würden die immer eindrücklicheren Zeichen Jesu nicht mehr Vertrauen und Glauben bewirken, sondern auch mehr Unverständnis und Abweisung.

 

Dennoch – die Botschaft ist nicht aufzuhalten: Jesus sendet bereits die Zwölf, er schickt seine Jünger zu zweit auf den Weg – ohne Vorratstaschen, nur mit einem Wanderstab, aber versehen mit der Vollmacht, die frohe Botschaft zu verkünden, Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben, Menschen gesund und frei zu machen. Dann aber, direkt vor unserem heutigen Abschnitt, spitzt sich die Situation zu. Herodes hatte Johannes den Täufer ermorden lassen, die mahnende Stimme des Täufers Johannes sollte auf Wunsch seiner Schwägerin Herodias verstummen, deren Tochter Salome wird dafür missbraucht, wie wir heute sagen. Das Mädchen tanzt, und auf die Zusage hin, dass sie sich etwas wünschen darf, tut sie das, was wahrscheinlich die meisten Kinder tun würden, sie laufen zur Mama und fragen: „Der Onkel Herodes hat gesagt, ich darf mir wünschen, was immer ich will. Was soll ich mir wünschen?“ Die Szene ist bedrückend, Macht und Gewalt sind so offensichtlich, da gibt es keine Gnade, da gibt es kein Entkommen, da gibt es keine Hilfe.

 

Unser heutiger Abschnitt klingt wie eine Überleitung: Die Aussendung der Jünger, die Ermordung des Täufers Johannes – und jetzt braucht die Erzählung etwas Luft, um weitergehen zu können. Und genau das geschieht auch: Die Jünger kommen zurück, sie berichten von ihren Erfahrungen, sie erzählen alles, wie Kinder nach aufregenden Erlebnissen. Ausruhen ist angesagt. Die Sätze Jesu klingen mütterlich, väterlich, etwas Trauriges klingt mit, wenn es heißt: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus.“ Ruhe ist nötig, Alleinsein, Zeit für sich selbst, um nachzudenken und zu verarbeiten, was alles geschehen ist, aber auch Zeit für Gespräche miteinander, sie ziehen sich ja gemeinsam zurück. Nach all der Fürsorge für die Menschen (nicht einmal Zeit zum Essen hatten die Jünger, heißt es), nach all der Fürsorge ist jetzt etwas anderes angesagt: Rückzug, Zeit für sich und untereinander. Heute wissen wir alle, wie notwendig es ist, um arbeits- und lebensfähig zu bleiben, die Zeiten des Rückzugs, die Zeiten des Gesprächs und des Austausches mit Gleichgesinnten, die Zeit, wieder für sich selbst „Nahrung“ im wörtlichen und im übertragenen Sinn aufzunehmen.

 

Und - spannend an diesen unscheinbaren Versen des heutigen Evangeliums ist der Abschluss: Im Verhalten Jesu wird das Gottesbild deutlich: Jesus sieht die Not, Jesus hört das Klagen und das Leiden – wie damals in Ägypten Gott selbst das Leiden Israels sieht und zur Befreiung hilft, so auch Jesus. Wie Gott selbst, so reagiert Jesus mit „Erbarmen“, wenn er die Menschen sieht. „Erbarmen“, auch „Mitleid“, besser wahrscheinlich „Mitempfinden“, Jesus sieht die Menschen in ihrer Not. Das Motiv der Herde ohne Hirten ist im Alten Testament präsent, Mose sorgt sich darum, einen Nachfolger einzusetzen, damit „die Gemeinde Jahwes nicht Schafen gleicht, die keinen Hirten haben“ (Num 27,17). Die hirtenlose Herde ist eine Anklage gegen pflichtvergessene Könige, Vorsteher, nur wenn die Verantwortlichen ihre Verantwortung nicht ernst nehmen, ist die Herde ohne Hirten, wie dies bei Ez 34, 5 oder 1 Kön 22, 17 auftaucht. Jesu Reaktion, Mitleid mit den Menschen zu haben, und das Bild des Hirten zielt über die gegenwärtige Zeit hinaus: In der Begegnung mit Jesus erleben Menschen, wie Gott ist, nämlich zugewandt, mitgehend, mitleidend. Das ändert nicht, was ich im Leben erleben werde, das ändert nicht, was in meinem Leben an Schönem und an Schwerem auf mich zukommt. Aber ich bin nicht mehr alleine, nicht mehr – im Bild gesagt – „ohne Hirte“, Gott wird in Jesus sichtbar als der, der an der Seite bleibt, mitgehend, mitleidend, erbarmend…

 

Wenn ich das Wort, beziehungsweise mit dem Wort die ganze Bedeutung von „Erbarmen“ aufnehme, dann wird sichtbar, wie wir begleitet sind, in den schönen und in den ganz schweren Momenten des Lebens. Wir haben ja manchmal eine Art innerer Begleiter, Stimmen in uns, die unser Tun und auch unser Unterlassen innerlich einordnen, auch auf eine Art „kommentieren“. Die Begleitung Gottes ist auch innerlich „kommentierend“, aber nicht fordernd, abwertend, strafend im Blick auf das, was ich schon wieder falsch gemacht habe, woran ich selbst schuld bin, was ich halt in meinem Leben schon längst hätte ändern müssen, dass es an mir liegt, an meinem Lebensstil, dass ich erkranke – oder wie auch immer. In diesen wenigen Versen des heutigen Evangeliums wird so deutlich: Gott begleitet uns nicht als weiterer innerer Kritiker, abwertend und fordernd, sondern Gott begleitet uns mit einem wohlwollenden Blick, Gott begleitet unser Leben mit einem fürsorglichen Blick. Diese wenigen Verse wollen uns gerade in so turbulenten Zeiten, mit vielen, manchmal überfordernden Erfahrungen Mut machen: Wir sind nicht unbegleitet im Leben, Gott begleitet die Menschen mit einem wohlwollenden, einem zugewandten Blick. Vielleicht fällt Ihnen das ein, wenn Sie - wieder einmal – mit sich selbst unzufrieden sind, wenn Sie – wieder einmal - sehr streng mit sich umgehen…