Erfüllte Zeit

26. 07. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

von Helga Kohler-Spiegel

 

 

„Die wunderbare Speisung einer Volksmenge am See von Tiberias“

(Johannes 6, 1 – 15)

 

Es ist eine bekannte Geschichte, in den Evangelien mit unterschiedlichen Nuancen überliefert – hier bei Johannes begegnen wir der für Johannes typischen Art, dass er bereits im Erzählen erklärt und kommentiert. Jesus hält sich in Galiläa auf, auch das Pessachfest verbringt er in Galiläa. Mit dieser Zeitangabe wissen wir, dass ein Jahr seit Jesu erstem Auftreten vergangen ist. „Auf der anderen Seite des Sees“ – wieder einmal ist ein Perspektivwechsel nötig.

 

Manches ist bei Johannes parallel mit den Überlieferungen bei den Synoptikern Markus, Matthäus und Lukas: Die Nähe zum See, die Ratlosigkeit der Jünger, das Volk lagert im Gras, am Anfang stehen fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung, am Ende sind zwölf volle Körbe übrig. Aber: Im heutigen Text, im Johannesevangelium sitzt Jesus auf einem Berg, er predigt nicht, sondern „stellt auf die Probe“ – ohne dass wir schon wüssten, warum er das tut. Jesus – das ist klar – ist souverän, er weiß, was er will, er thront auf dem Berg und handelt, er spricht das Gebet, er teilt das Brot aus, er gibt Anweisung, was jeweils zu tun ist, er löst das Problem.

 

Das Zeichen ist eindrücklich, es sprengt jeden Rahmen, in diesem „Zeichen“, wie Wunder im Johannesevangelium genannt werden, wird Wichtiges sichtbar: Aus glaubender Perspektive ist klar: In Jesus wird nicht nur ein besonderer Mensch sichtbar, sondern Gott selbst, denn nur Gott gibt „Leben in Fülle“, nur von Gott selbst heißt es in Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen…“ Gott gibt „Leben in Fülle“.

 

Zugleich wird Jesus mit Erwartungen konfrontiert, die er nicht erfüllen will. Er merkt, dass die Menschen ihn zum König machen wollen. Irgendwie verständlich, dass die Menschen den guten Hirten, den Heiler, den, der Brot für alle bringt – dass dieser Mensch zum „König“ gemacht werden soll, ist ja aus der Perspektive der Menschen richtig. Am Ende am Kreuz wird dann Pilatus das Schild anheften lassen: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Jesus ist zum König für die Menschen geworden, aber auf eine ganz andere Art. Diese Probe müssen die Menschen, die Jesus nachfolgen, noch lernen: Sie haben erlebt, dass Jesus aus dem Überfluss gibt, praktisch aus dem Nichts. Das ist ein wunderbarer Vorgang – doch sie haben noch nicht verstanden, wer Jesus ist.

 

Jesus, so heißt es, stellt Philippus auf die Probe. Was aber muss Philippus lernen? Philippus sieht die Situation – und resigniert. Wir könnten sagen, das ist doch nur realistisch, soll er so abgehoben sein, dass er nicht sieht, dass die vorhandenen Nahrungsmittel und das Geld nicht reichen, dass es keine Chance gibt, die Menschen zu nähren. Und doch scheint der „Fehler“ des Philippus zu sein, dass er nur Fakten sieht, dass er keine weiteren Ideen hat. Andererseits Andreas: Er hat auch keine wirkliche Lösung, er nimmt die Realität auch wahr, aber er schaut genau hin und sieht wenigstens den kleinen Jungen, auch wenn dadurch das Problem nicht gelöst wird. Er hat „Gerstenbrot“, Gerstenbrot gilt als das „Brot der Armen“. Und dann heißt es: Von diesem Brot können sich alle nehmen, so viel sie wollen, und sie werden „erfüllt“ davon. Es heißt nicht, dass sie „satt“ werden, sondern „erfüllt“.

 

Mit diesem Zeichen geschieht eine „Scheidung“ bei Jüngern und Volk. Aus einer großen Gruppe von Menschen, die Jesus aufsuchen, ihm zuhören, werden Anhänger und Gegner. Neben denen, die Jesus nachfolgen, werden die sichtbar, die Jesu Handeln als Zumutung empfinden, wohl auch als Skandal, am Ende werden sie offene Ablehnung und Feindschaft zeigen. Die Frage gilt bis heute: Was ist mein Interesse an Jesus, was ist mein Bild von ihm, was ist meine Erwartung an ihn? Wir kennen die Szenen, wir kennen die Geschichte so gut, dass Leben und Tun Jesu seine Dramatik verloren haben. Wir sind nicht mehr irritiert ob seines Handelns, wir haben Wege entwickelt, die Zeichen einzuordnen und zu verstehen – und dennoch, behaupte ich, bleibt ein Stachel: Wer ist dieser Jesus?

 

Die Jünger werden noch öfters mit Jesus Brot teilen, zubereiteten Fisch essen. Nach Tod und Auferstehung werden sie ihn am Brechen des Brotes erkennen, sie werden Brot mit ihm teilen. Die Worte im heutigen Evangelium erinnern an die Eucharistie, der nachösterlichen Gemeinde waren diese Worte aus der Gottesdienstpraxis vertraut, die Assoziation ist klar. Jesus wird nicht nur Brot und Wein geben, er selbst ist Brot und Wein. Dies aber sind Glaubensaussagen. Und so bleibt das Zeichen der Brotvermehrung ein, finde ich, herausfordernder Text, denn dieses Zeichen entlässt uns mit der Frage: Wer ist dieser Jesus für mich? Was traue ich ihm zu? Und das Zeichen will eine Antwort, eine ganz persönliche Antwort.