Erfüllte Zeit

09. 08. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Rede vom Himmelbrot in der Synagoge von Kafarnaum“
(Johannes 6, 41 – 51)
von Richard Tatzreiter

 

 

Die Schulglocke hatte soeben des Ende der Pause und die nächste Unterrichtsstunde eingeläutet. Der Lehrer betrat pünktlich das Klassenzimmer. Dieser Lehrer war bei den Schülern sehr beliebt, weil er den Unterricht ansprechend und interessant gestaltete. Nun führte er die Klassengemeinschaft gekonnt in ein neues Lernfeld ein; alle hörten ihm aufmerksam zu, während er vor der ersten Schreibtischreihe langsam auf und ab ging und gelegentlich etwas auf die Tafel schrieb. Eher beiläufig fiel dabei sein Blick in den Mistkübel, der dort neben dem Waschbecken stand. Der Lehrer hielt plötzlich inne, legte die Kreide behutsam auf das Tafelbrett, ohne seine Augen von dem Mistkübel abzuwenden, trat langsam neben den Kübel und schaute weiter gebannt hinein. Nach einigen Augenblicken bückte er sich und zog mit der Hand ein frisches, völlig unberührtes Butterbrot aus dem Mistkübel, das offensichtlich jemand in der Pause weggeworfen hatte. Er betrachtete das Jausenbrot eine Weile aufmerksam und schloss dann kurze Zeit die Augen. Dann blickte der Lehrer in die Klasse, führte das Brot zum Mund und biss ein erstes Stück davon ab, um nach und nach alles in Ruhe aufzuessen, während die Schülerinnen und Schüler regungslos da saßen. Ohne ein einziges Wort dazu zu sagen, setzte er danach den Unterricht fort.

 

Diese wahre Begebenheit hat sich vor vielen Jahren in einer Schule in Kärnten zugetragen. Ein Freund hat sie mir erzählt. Bis heute soll es dort seither nicht mehr vorgekommen sein, dass genießbare Lebensmittel einfach weggeworfen werden. Das Beispiel des Lehrers, der selbst nach dem Krieg als Kind schweren Hunger gelitten hatte, sprach sich rasch herum und wird bis heute weitererzählt: „Stellt euch das vor! Er hat das frische Brot aus dem Mistkübel geholt und vor aller Augen gegessen!“ Die Ehrfurcht dieses einen Menschen vor einem gewöhnlichen Stück Brot hat überzeugt: Am Brot ist mehr dran, als es auf den ersten Blick scheint. Es ist nicht irgendein Konsumgut oder eine Wegwerfware. Am Brot hängt unser menschliches Leben.

 

In seiner sogenannten „Brotrede“, die uns im 6. Kapitel des Johannesevangeliums überliefert ist, erklärt Jesus seinen Kontrahenten seinen eigenen Ursprung im Bild des Brotes; er spricht davon, woher er stammt: Nicht etwa aus dem Bereich der Menschen, sondern von Gott, dem Vater, ist er zu uns Menschen gekommen. „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“. Damit ist zweierlei gesagt: Dieser Jesus ermöglicht uns das Leben, so wie das Brot für uns Lebensgrundlage ist; denn „durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung“[1]. Aber darüber hinaus tragen wir durch Jesus Christus auch das unzerstörbare Leben in uns, das durch seinen Tod und seine Auferstehung angebrochen ist. Dieses Leben ist ganz und gar nicht unser, sondern sein Verdienst. Es ist und bleibt ein Geschenk des Himmels, „Brot vom Himmel“ eben, Anteil am Leben Gottes. Im Gebet, das er seine Jünger und alle, die ihm nachfolgen, lehrt, lässt uns Jesus den Vater im Himmel um diese kostbare Gabe, um das „wesentliche“, tägliche Brot bitten.

 

Der beliebte Lehrer und sein Beispiel gehen mir nicht aus dem Sinn: Dieser Mensch hat den lebensbedrohlichen Hunger am eigenen Leib erfahren. Das frische, achtlos weggeworfene Jausenbrot hat er dann vor den Augen seiner Schüler in der Klasse aus dem Mistkübel gehoben und vor aller Augen gegessen: Schon das alltägliche Brot verdient unseren Respekt. Das „Brot des Himmels“, von dem Jesus in einer radikalen Selbstbezeichnung spricht, verdient Anbetung. Es wird von Gott als Speise in unsere Hand, in unser Leben verschenkt, damit wir das „Leben in Fülle“ haben. Mit der Gabe des „lebendigen Brotes“ geht Gott auch das Risiko ein, darin selbst verkannt oder sogar verachtet und weggeworfen zu werden. Wo immer das geschieht, ereignet sich etwas vom heilsgeschichtlichen Drama der menschgewordenen Liebe Gottes: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“[2] – so heißt es im Johannesevangelium. Zugleich bleibt über dem „Brot des Himmels“ die Verheißung: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“[3].


 

[1] Kol 1,16

[2] Joh 1,11

[3] Joh 1,12