Erfüllte Zeit

15. 08. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Besuch Marias bei Elisabet“ (Lukas 1, 39 – 56)
von Richard Tatzreiter

 

 

Während wir bei meinem Gratulationsbesuch ein Stück von der köstlichen Torte genießen, die ihm seine Frau zum 85. Geburtstag gebacken hat, fragt mich der Jubilar unvermittelt: „Sehen Sie diese Billetts, Herr Kaplan?“, und zeigt auf einen großen Stapel von Grußkarten. Wie ein Berg erheben sich die zahlreichen Gratulationszuschriften aus einer grünen Schachtel neben dem Wohnzimmerkasten. „So viele Glückwünsche haben Sie jetzt bekommen? Na, da haben aber wirklich viele Menschen an Sie gedacht!“, meine ich zum betagten Geburtstagskind. „Nein, Herr Kaplan“, schüttelt der alte Herr den Kopf, „all die Karten stammen nur von Einem, von meinem besten Freund! Ich kenne ihn seit meiner Volksschulzeit und er schickt mir seit damals jedes Jahr eine Glückwunschkarte zu meinem Geburtstag. Ich habe alle seine Karten aufgehoben. Auch heuer hat er mir wieder geschrieben, obwohl er schon sehr krank ist.“ Und mit Tränen der Rührung in den Augen setzt der 85-Jährige hinzu: „Der vergisst mich sicher nie!“

 

Der Geburtstagsbesuch bei diesem alten Herrn in meiner Kaplanszeit und die behutsam aufbewahrten Glückwunschkarten seines besten Freundes aus acht Jahrzehnten haben mich seither immer wieder beschäftigt. Vieles gerät im Laufe unseres Lebens in Vergessenheit. Auch Menschen, die uns früher viel bedeutet und eine wichtige Rolle gespielt haben, entschwinden mit der Zeit unserem Blick, unserer Aufmerksamkeit. Vielleicht gerät jemand mit fortschreitendem Alter mehr und mehr in die Gefahr, von anderen vergessen zu werden und zu vereinsamen. Es stellt sich in diesem Prozess immer deutlicher heraus, wer aus dem kleiner werdenden Bekanntenkreis zu uns steht, auf wen wirklich Verlass ist, auf wen wir jedenfalls zählen können. Dann ragen sie wie tragende Säulen aus dem Meer der Ungewissheit: Menschliche Treue, bleibende Verbundenheit und Zuwendung, Freundschaft, die ihren Namen verdient. All das gibt uns in Bewährungsproben, Krisenzeiten und zuletzt am Abend unseres Lebens Halt und Zuversicht. Solche Erfahrungen sind wie Fixsterne am bewegten Himmel, die über allem Wandelbaren unseres Daseins geheimnisvoll auf etwas Unwandelbares und Bleibendes hindeuten.

 

Wenn am Ende des Tages die Sonne sinkt und sich im anbrechenden Dunkel die Nacht ankündigt, dann singt die Kirche in ihrem Abendgebet seit Jahrhunderten einen der zentralen neutestamentlichen Texte, den uns der Evangelist Lukas überliefert hat, den Lobgesang Mariens, das Magnificat. In diesem Lobpreis der Gottesmutter, den sich die katholische Kirche in ihrer abendlichen Liturgie täglich zu Eigen macht, wird Gott in seiner unablässig bestehenden Treue verherrlicht, wenn es schließlich heißt: „Er denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“ Es ist die Erfahrung Israels, die hier im Jubelruf Mariens ihren Ausdruck findet: Dieser Gott macht keine leeren Versprechungen, sondern erfüllt in jedem Augenblick der Geschichte seine Verheißung, indem er bleibt. Die göttliche Gegenwart umgreift alle Vergänglichkeit und Vergessenheit in dieser Welt und Zeit, sie hebt Vergangenes, jetzt Geschehendes und Künftiges in sich auf. Dieses ewige „Heute“, das uns in Jesus Christus ein für allemal zugewendet ist, kennt keinen Untergang, sondern ist sich persönlich erweisende und verschenkende Treue, ist die Freundschaft, über die der Tod keine Macht hat. Wenn wir aufmerksam sind, können wir ein Leben lang Zeichen dieser Freundschaft Gottes zu uns sammeln, so wie jener betagte Mann in meiner Kaplanspfarre die jährlichen Geburtstagsglückwünsche seines besten Freundes als Kostbarkeiten aufgehoben und gehütet hat. Dieser Mann hat an seinem 85. Geburtstag etwas über seinen treuen Freund gesagt, das für mich die im Magnifikat besungene Treue Gottes auslegt: „Der vergisst mich sicher nie!“