Erfüllte Zeit

01. 11. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Bergpredigt – Die Rede von der wahren Gerechtigkeit“

(Matthäus 5, 1 – 12a)

von Hans Peter Premur

 

 

Wie gewohnt hören wir zum Fest Allerheiligen die acht Seligpreisungen der Bergpredigt. Und genau diese Gewohnheit kann uns zur Falle werden. Allzu leicht ist es möglich, dass wir zwar hinhören, aber dabei – wegen der Gewöhnung eben – wesentliches über-hören.

 

Damit dies nicht passiert ist es notwendig, mit ungewöhnlicher, mit neuer Perspektive auf das Bekannte hinzuschauen. Manchmal sind dabei auch Impulse von außen sehr hilfreich. Eine andere Bibelübersetzung als die gewohnte, die so genannte Einheitsübersetzung, die wir allsonntäglich hören, öffnet manchmal ein Lichtfenster beim Evangelium Lesen. Genauso können auch Bilder aus anderen Religionen helfen, den Text besser zu verstehen.

 

Mir persönlich ist die Symbolik und das Setting, in dem sich die Bergpredigt ereignet, erst so richtig beim Studium der Predigten des Gautama Buddhas bewusst geworden. In der 22. Lehrpredigt Buddhas – und er predigte immer im Freien auf Hügeln sitzend – begründet dieser eines der wesentlichsten Elemente auf dem Weg zum Nirvana, bzw. der buddhistischen Seligkeit: Nämlich den achtfachen Pfad. Wer diesen Pfad nicht geht, der ist auch kein Buddhist.

 

Wie ist das mit unseren acht Seligpreisungen? Kann man von einer anderen Religion angeregt ebenso behaupten: Wer die acht Seligpreisungen nicht lebt, ist kein Christ!? Wahrscheinlich wohl. Denn die Lehre Jesu, die sich konzentriert in der Bergpredigt zeigt und die seiner gesamten Botschaft innewohnt, will nicht nur gelesen oder gehört – sondern auch gelebt werden. Wer so lebt wie Jesus es uns im heutigen Text zuruft, der hat scheinbar schon jetzt Anteil am Himmelreich, an der Seligkeit, denn er oder sie schaut mitten in der vergänglichen Welt etwas vom unvergänglichen Glanz Gottes. Dies ist mir besonders beim Meditieren des heutigen Textes in der Übersetzung von Martin Luther aufgegangen. Hat die ebengehörte Einheitsübersetzung eher die Tendenz als Vertröstung ins Jenseits verstanden zu werden, so weist Luthers Übersetzung nicht auf eine ferne Zukunft, sondern auf das Hier und Jetzt in der Gegenwart hin. Er übersetzt den griechischen Originaltext mit „ihrer ist das Himmelreich“, statt wie wir lesen „ihnen gehört das Himmelreich“. Was damit gemeint ist, wird sichtbar in der dritten Seligpreisung, wo es heißt, „selig, die keine Gewalt anwenden“. Bei Luther und im griechischen Urtext steht  hingegen „selig sind die Sanftmütigen“. Das mag nicht sehr auffällig klingen, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich bald, dass Sanftmut mehr ist als nur die Empfehlung, keine Gewalt anzuwenden. Sanftmütig kann man nur sein, wenn man als ganzer Mensch von einem tiefen Frieden ergriffen ist, wenn sich das Bewusstsein grundlegend verändert. Äußere Verhaltensregeln nützen nichts ohne verinnerlichte Geisteshaltung. Nach Sanftmütigkeit zu streben bedeutet für mich daher, einen Weg zu gehen, einen spirituellen Weg. Zu hören und gleichzeitig zu tun, oder zu praktizieren, wie die Buddhisten sagen. Nur durch das Tun, das Umsetzen der göttlichen Botschaft, ändert sich auch etwas in uns. Mahatma Gandhi hat den Begriff der Sanftmütigkeit zu einem politischen-spirituellen Weg gemacht. Für ihn war die Sanftmut, die im Indischen der „Weg des nicht Verletzens“ genannt wird, eine spirituelle Praxis, die zuerst in den Herzen der Menschen ankommen muss bevor man sie als Gewaltlosigkeit nach außen tragen kann. Vor diesem Hintergrund des interreligiösen Kontextes zeigen sich die acht Seligpreisungen als ein Weg zur Seligkeit, der schon mitten im irdischen Leben einsetzt. Denn wer zum Beispiel sanftmütig ist, der hat sicher schon jetzt einen Anteil am Reich Gottes.