Erfüllte Zeit

08. 11. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Worte gegen die Schriftgelehrten“ (Markus 12, 38 – 44)

von Hans Peter Premur

 

 

Heute hören wir Jesus in der Rolle des Systemkritikers. Die damaligen Theologen – die Schriftgelehrten – nimmt Jesus gerne aufs Korn. Sie, die die heiligen Texte kennen und sie für das Volk auslegen, die leben in Wirklichkeit oft ganz anders. – Eben: Wasser predigen und Wein trinken! Diese spirituelle Krankheit gab und gibt es in jeder Religion und zu jeder Zeit. Gerade ich als Priester und Theologe muss mir diese Systemkritik aus dem Munde Jesu besonders gefallen lassen, und mit mir die ganze Kirchenleitung. Denn Ehrenplätze, Festmähler und lange Gewänder und manch anderes mehr sind auch Attribute meines Berufes und ich fühle mich vom heutigen Sonntagsevangelium durchaus angesprochen. Denn gerade Heuchelei und Habgier sind große Versuchungen, die einem im religiösen Geschäft leicht und oft begegnen können. Jesus gibt seinen Jüngern ein Gegenbild mit auf den Weg. Das Bild der armen Witwe, es soll den religiösen Menschen zeigen, worum es in  Wahrheit geht.

 

Natürlich benötigt eine institutionalisierte Religion auch Geld. Das ist im Judentum nicht anders als etwa in den asiatischen Religionen oder gar im Christentum. Ohne finanzielle Mittel könnte keine religiöse Infrastruktur aufgebaut und erhalten werden. Deshalb gibt es Spenden. Diese Praxis ist international und interreligiös üblich. Der Opferstock – oder Opferkasten, wie es bei Markus heute heißt, ist ein gewohntes Bild in aller Welt. Ich kenne keine Kirche, in der nicht so ein Kasten anzutreffen ist. Was  sich ein Mensch, wenn er oder sie Geld in ihn hineinwirft, denkt,  ist meist ein sehr persönliches Geheimnis. Eines aber scheint klar zu sein – wenn die Münze im Opferkasten klingt, dann erwartet sich der Spender, dass sich auf der nichtmateriellen Seite, in der jenseitigen Welt etwas Positives tut. Man setzt eine gewisse Ökonomie zwischen Diesseits und Jenseits voraus, die – wie wir alle wissen auch zu abartigen Entwicklungen führen kann – wie es uns der mittelalterliche Ablasshandel vor Augen geführt hat.

 

Die arme Witwe, von der wir heute hören, war eindeutig nicht im Besitz irgendwelcher Finanzmittel. Vielleicht wurde sie auch von Erbschleichern oder ähnlichen Genossen um ihr Hab und Gut gebracht. Aber sie wollte dennoch eindeutig ihr „Schärflein“ beitragen. Scherf oder Scherflein – so übersetzt Martin Luther die „zwei kleinen Münzen“ und hat damit eine deutsche Redewendung geprägt. Im Mittelhochdeutschen bedeutet Scherflein die kleinste aller Münzen, die im Umlauf  war und die interessanterweise nicht durch ihren metallischen Materialwert gedeckt war. Zumeist aus Kupfer geschlagen, wie der ehemalige Glücksgroschen oder –pfennig, hatte diese Münze fast nur symbolischen Wert.

 

Jesus bewertet deshalb das Opfer der Witwe nicht nach dem Material-,  sondern nach dem Symbolwert. Und als Symbol ist es klar. Sie hat – so könnte man sagen -  ihren Glückspfennig in den Opferstock geworfen und damit ALLES worauf sie ihre materiellen Hoffnungen setzen konnte, und das war  im Grunde NICHTS, denn die kleinste aller Münzen hatte eben kaum einen Wert. Dennoch setzte die arme Witwe mit ihrer Spende ein Zeichen. Sie setzte ihr Glück ganz auf Gott und seine Vorsehung.

 

Einer armen Witwe von damals bleibt vielleicht auch nichts anderes übrig. Deshalb wird sie zum Gegenbild für die Schriftgelehrten, die Theologen und für eine saturierte Konsumgesellschaft. Wer wirklich den Weg der Nachfolge Jesu, den echten spirituellen Weg gehen will, der kann sich nicht auf seinen Besitz oder seine Macht verlassen. Ein Jünger Jesu muss sein Leben, nicht im materiellen sondern im wahrhaft symbolischen Sinn – ganz von Gott abhängig machen.