Erfüllte Zeit

15. 11. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Vom Kommen des Menschensohns“ (Markus 13, 24 - 32)

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

Vor kurzem habe ich eine Bibel-Studienreise in Jordanien geleitet. Ende Oktober und Temperaturen von über 30 Grad! Klar, dass wir auch ans Al-Bahr al-Mayyit kamen, ans Tote Meer. Und diesmal traf sein Name voll zu. Bleiern und blaugrau hing eine Dunstglocke über dem öligen Salzwasser. Der fahle Schleier gab nicht den geringsten Blick auf Jerusalem frei, auch abends kein einziger Lichtpunkt auf Judäas Bergen gegenüber. Drückend schwül, 400 Meter unter dem Meeresspiegel. „Auch emotional bin ich auf einem Tiefpunkt“, sagte eine Teilnehmerin unserer Reise, „ich fühle mich leer, wie erstarrt. Dazu der faulige Geruch nach Schwefel und diese ganze düstere Atmosphäre! So stelle ich es mir vor“, meinte sie nachdenklich, „wenn die Welt untergeht...“ 

 

Die Welt geht unter: Das sagten viele auch damals, vor fast 2000 Jahren, als Vespasian mit etwa 60.000 Mann in die Provinz Judäa einmarschierte. Neben vielen anderen Orten wurde auch Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres von den römischen Soldaten zerstört. Im Jahre 68 nach Christus. Unmittelbar davor gelang es noch den sogenannten Essenern, ihre Schriftrollen in Tonkrügen zu verschließen und sie in den umliegenden Felshöhlen zu verstecken. Einige der ab 1947 gefundenen, äußerst wertvollen Manuskripte konnten wir im Original in Amman bestaunen.

 

Die Welt geht unter: Das sagten viele auch damals, vor fast 2000 Jahren, als Vespasians Sohn Titus mit vier Legionen Jerusalem angriff. Nach monatelanger Belagerung wurde die Stadt erobert, vor allem aber der Tempel seiner Schätze beraubt und niedergebrannt. Im Jahre 70 nach Christus. Unmittelbar davor soll, wie Eusebius von Cäsarea später vermutet, die judenchristliche Urgemeinde von Jerusalem nach Pella geflohen sein. Über den Jordan also, ins Gebiet der Dekapolis, wo auch schon Jesus unter der nichtjüdischen Bevölkerung gelehrt und geheilt hat.

 

Die Welt geht unter: Als viele das damals sagten, vor fast 2000 Jahren, da verfasste Markus sein Evangelium. Um das Jahr 70 nach Christus. Ob noch in der Endphase des Jüdischen Krieges oder bald danach, darüber sind die Bibel-Fachleute geteilter Meinung. Und falls Markus in Rom schrieb, so könnte er dort sogar den großen Triumphzug des Titus erlebt haben. Mit grölenden Söldnern, die ihre Beutestücke aus dem Jerusalemer Tempel  zur Schau stellten, besonders hoch den siebenarmigen Leuchter. Wie es der bekannte Titusbogen auf dem Forum in Rom zeigt.

 

Tempelzerstörung, Kriege und Bedrängnis: Markus weiß, wovon er spricht. Verunsichert fragen seine Mitchristen: „Ist das schon das Ende der Welt?“ „Nein“, betont er in den heute gehörten Versen, denn erst „nach der großen Not“ (V.24) werden „die Kräfte des Himmels erschüttert werden“ (V.25).

 

Sonne, Mond und Sterne: Es ist auffallend, dass in diesen gewaltigen Bildworten nur vom Himmel die Rede ist. Was mit der Erdscheibe, dem Zentrum des Kosmos, geschieht, wird überhaupt nicht erwähnt. Markus hat viele Zitate aus dem Ersten Testament eingewoben, die alle um ein Thema kreisen: Nämlich um den Tag des Herrn, an dem JHWH Gericht hält über alle Nationen. Kommen wird er „auf den Wolken“, diesem Symbol göttlicher Gegenwart. JHWHs Rolle als Richter übernimmt dabei der „Sohn des Menschen“, „Bar Enosch“ im aramäischen Original. Denn Daniel 7, woher die Bezeichnung stammt, ist in dieser Sprache geschrieben worden.

 

Markus greift damit auf ein Werk der „apokalyptischen Literatur“ zurück, weil er selbst eine sogenannte „apokalyptische Rede“ komponiert. Darin „enthüllt“ Jesus den Verlauf der Geschichte, „offenbart“ er – wie andere Propheten und Gottesmänner vor ihm – das Ende der Welt. Markus hat Jesu „Rede über die Endzeit“ als Jünger-Belehrung am Ölberg stilisiert, gerichtet an Petrus und Jakobus, an Johannes und Andreas. Sie umfasst das ganze 13. Kapitel seines Evangeliums und öffnet sich erst im letzten, im 37. Vers: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam“

 

„Wachet!“ Diese Aufforderung an die Gemeinde ist das Ziel und der klare Höhepunkt von Jesu Rede. „Wachet!“ Dreimal ergeht dieser Imperativ an die vier Jünger. Insofern ist die Abgrenzung der Perikope für den heutigen Sonntag nicht gerade glücklich. Werden nämlich diese neun Verse isoliert vorgetragenen, so lenken sie die Gedanken in eine Richtung, gegen die sich Markus energisch gewehrt hat: Zu vagen Spekulationen über den Weltuntergang. „Nicht einmal der Sohn kennt jenen Tag und jene Stunde“, lässt er Jesus eindringlich sagen, „sondern nur der Vater!“

 

Ein Kirchenjahr neigt sich dem Ende zu. Novembertage, kurz und kalt, oft im Nebel. Da können sie schon aufsteigen, die bohrenden Fragen nach dem Wohin von Welt und Geschichte; die quälenden Ängste vor Krankheit und Leid, vor dem eigenen, absolut sicheren Ende. Aber auch Antwort kann aufleuchten, erhellend wie ein Sonnenstrahl durch die Regenwand. Weg-Weisung, konkret und einfach.

 

Und ich höre die Stimme von einem, der in mir spricht, klar wie der „Menschensohn“: „Wache! Übe dich darin, deine Augen offen zu halten. Lerne, die Zeichen der Zeit zu lesen. Wache! Steh auf aus dem Bett der Bequemlichkeit. Reib dir den Sand aus den Augen, den der Konsumgeist streut. Wache! Warte auf den, der eintritt ohne anzuklopfen, weil es bei ihm nur das Jetzt gibt. Und vertrau ihm. Denn er ist der Herr aller, auch deiner Zeit…“