Erfüllte Zeit

08. 12. 2009, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Verheißung der Geburt Jesu“ (Lukas 1, 26 - 38)

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

Ein wunderbarer Text aus der Hand des Evangelisten Lukas! Oft habe ich ihn schon gelesen, gern als „Gegrüßt seist du, Maria“ gebetet und froh als „Ave Maria“ gesungen. Aber – wie passt dieser Text zum heutigen Tag? An Mariä Verkündigung, da tritt Gabriel völlig zu Recht auf, als „Stärke Els“, als „Zeugungskraft des Höchsten“: Denn so wurde ‚gabor-El’ oder ‚gibr-Il’ im ganzen „Fruchtbaren Halbmond“ der Antike verstanden. Was Lukas den Gottesboten verkündigen lässt, das kann am 8. Dezember eher verwirrend wirken, denn es wird nicht Jesu, sondern „Mariä Empfängnis“ gefeiert.

 

Darüber findet sich kein einziger Vers in den kanonischen, also biblisch überlieferten Evangelien. Wer nach Marias Kindheit fragt, nach den Namen ihrer Eltern, ihrer Geburt oder - wie heute - nach ihrer Empfängnis, der muss zu außerbiblischen Schriften greifen. Diese werden katholischerseits als „apokryph“ bezeichnet, in den reformatorischen Kirchen nennt man sie „pseudepigraphisch“. Hilfreich scheint mir der Ausdruck „pseudonym“ zu sein, also mit einem falschen Verfassernamen versehen. So wurde etwa das „Protoevangelium des Jakobus“, wie schon der Name sagt, dem Apostel Jakobus zugeschrieben. Es wird aber in seinem Grundbestand wohl kaum vor dem Jahr 150 n. Chr. entstanden sein und schmückt die biblischen Kindheitserzählungen aus. Im 4. Kapitel dieser Schrift heißt es:

 

„Und siehe, da trat ein Engel des Herrn zur ihr und sprach: ‚Anna, Anna, Gott, der Herr, hat deine Bitte erhört. Du wirst empfangen und gebären, und deine Nachkommenschaft wird auf der ganzen Welt bekannt werden!’ Anna sprach: ‚So wahr Gott, der Herr, lebt! Wenn ich gebäre, sei es ein Junge oder ein Mädchen, werde ich es dem Herrn, meinem Gott, als Geschenk darbringen, und es wird ihm dienen, solange es

lebt.’ “ 

 

Das „Protoevangelium des Jakobus“ führt viele Motive und Formulierungen weiter, die aus dem Alten wie dem Neuen Testament stammen. Wie Sara und Abraham, wie Elisabeth und Zacharias, so müssen auch Anna und Joachim viele Jahre auf Kindersegen warten. Umso größer ist dann aber die Freude, als ein Engel des Herrn die wunderbare Empfängnis dem recht begüterten Vater verkündet:

 

„Und sofort rief Joachim seine Hirten und befahl ihnen. ‚Bringt mir zehn makellose Lämmer hierher – die zehn Lämmer soll Gott, der Herr, bekommen. Und bringt mir zwölf zarte Kälber – die zwölf Kälber sollen die Priester und der Rat der Alten bekommen. Und schließlich noch hundert Böcke – die hundert Böcke soll das ganze Volk bekommen.’ “

 

Dieses eben zitierte „Protoevangelium des Jakobus“ ist die am häufigsten übersetzte und überlieferte Schrift außerhalb der Bibel. Natürlich wird darin auch die Geburt des sehnlich erwarteten Himmelskindes spannend erzählt. Wieder der wörtliche Text:

 

„Sechs Monate vergingen, wie der Engel ihr gesagt hatte, im siebten aber gebar Anna. Und sie fragte die Hebamme: ‚Was habe ich geboren?’ Die Hebamme antwortete: ‚Ein Mädchen.’ Da sprach Anna: ‚Es preist meine Seele diesen Tag!’ Anna reinigte sich von ihrem Wochenbett, gab dem Kind die Brust und nannte es Maria.’ “

 

Für mich liegt es hier nahe, einen direkten Bogen zum „Marien-Leben“ von Rainer Maria Rilke zu spannen. Vor fast hundert Jahren geschrieben, lässt er diese Gedicht-Sammlung mit vier Zeilen auf Mariä Geburt anheben:

„O was muß es die Engel gekostet haben,

nicht aufzusingen plötzlich, wie man aufweint,

da sie doch wußten: in dieser Nacht wird dem Knaben

die Mutter geboren, dem Einen, der bald erscheint.“

 

Wieder zurück zum „Protoevangelium des Jakobus“: Es gibt uns Einblick in die Volksfrömmigkeit und Marienverehrung der ersten zwei Jahrhunderte. Seine Wirkungsgeschichte war in der Ostkirche äußerst stark, besonders in Konstantinopel, wie die berühmten Mosaiken des Chora-Klosters zeigen. Nicht zuletzt geht die Ausgestaltung des christlichen Festkalenders, vor allem die Marienfeste betreffend, auf dieses beliebte Werk zurück.

 

Die Westkirche hat sich offiziell gegen das „Protoevangelium des Jakobus“ ausgesprochen. Eine wahrhaft seltsame Konstellation: Dieses „Verbotene Evangelium“ stellt eine der Wurzeln dar, aus denen sich die Mariologie entwickelte, also die Lehre über Maria. Auch jene vom heutigen Fest, dass nämlich Maria empfangen wurde ohne jeden Makel der „Erb-Sünde“. Von Anfang an so sehr erwählt, dass sie – wie ich persönlich gern sage – von „Erb-Liebe“ ganz erfüllt war. Mit dem Gruß des Gottesboten Gabriel im heutigen Evangelium nach Lukas: „Voll der Gnade“, „gratia plena“. Im griechischen Original steckt die Wortwurzel „Charis“, also „voll Charme“.

 

Mit den Augen des Herzens betrachtet, ist jedes Kind ein Geschenk. Welches ist nicht „voll Charme?“ Aus himmlischer Perspektive gesehen, ist jeder Mensch – ein Wunder. Wer ist da nicht „voll der Gnade?“