Erfüllte Zeit

24. 01. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das Wirken Jesu in Galiläa“

(Lukas 1, 1 – 4; 4, 14 – 21)
von Wolfgang Schwarz

 

 

Zurückgekehrt in seine Heimatprovinz Galiläa, lehrt Jesus in den Synagogen und kommt dort sehr gut an. Schließlich erreicht er auch wieder seine Heimatstadt Nazaret. Als gläubiger Jude geht er wie üblich zum Shabbat-Gottesdienst in die Synagoge. Er wartet jedoch nicht ab, ob man ihn um die Schriftlesung bitten würde. Er selbst macht Anstalten, nun vorlesen zu wollen. Die Jesaja-Rolle wird ihm in die Hand gedrückt. Und er schlägt einen Text auf, der nicht der liturgischen Leseordnung der Shabbat-Gottesdienste entspricht, sondern er wählt folgende Schriftstelle aus:

 

"Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt.
Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde
und den Blinden das Augenlicht;
damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."

 

Dadurch, dass Jesus selbst diesen Textabschnitt auswählt, macht er ihn zu seiner persönlichen Botschaft. Und der Umstand, dass er abschließend dazu erklärt, "heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt", lässt seine jüdischen Zuhörer aufhorchen: Er bezieht diesen Text auf sich! Sie kennen ihren großen Propheten Jesaja sehr gut und wissen, dass er mit diesen Versen über das Wirken des erwarteten Messias, über den Gesalbten, spricht! Sie müssen aber auch feststellen, dass der Satz, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen, aus einem anderen Abschnitt des Jesaja stammt. In diesem setzt sich der Prophet mit der richtigen Form des Fastens auseinander und fordert unter anderem die Befreiung der Zerschlagenen ein. Und das Stichwort vom "Gnadenjahr" in Verbindung mit dem Gedanken der "Befreiung" muss sie an ihr jüdisches Gesetzbuch erinnern, in dem von einem Erlassjahr die Rede ist, in dem alle 7 Jahre jeder Inhaber eines Darlehens aus seiner Hand lassen soll, was er seinem Nächsten geliehen hat. Darüber hinaus kennt ihre Bibel auch das Jubeljahr, das alle 50 Jahre, also nach 7 Erlassjahren, ausgerufen wird. Es ist ein Jahr der Freilassung für alle, die in Knechtschaft geraten sind und was in Not verkauft werden musste, geht an den früheren Eigentümer zurück. Diese Gesetze und Regelungen haben eine regelmäßige und rechtlich garantierte Befreiung von drückender Schuldenlast zum Ziel. Sie sichern aber auch zu, dass jeder Versklavte wieder zu seiner Familie zurückkehren kann und seinen Grundbesitz zurück erhält. Dadurch werden ursprüngliche Zustände wiederhergestellt und Neuanfänge des Lebens ermöglicht. Ein weiterer Grundgedanke dieser Verordnungen ist, dass das Leben jedes Menschen Gott gehört und nicht einem Sklavenhalter, und dass jeder Grundbesitz nur von Gott ausgeliehen ist, weil alles Land Gott selbst gehört. Hinter diesen Normen steht auch die Erfahrung, dass nahezu alle soziale Ungerechtigkeit mit dem Schuldenwesen in Zusammenhang zu bringen ist und gesellschaftliche Unterschiede von Reichtum und Armut, von Freiheit und Sklaverei nach sich ziehen. 

 

Wenn Familien verschuldet waren, mussten sie ihre Kinder verkaufen oder Stück für Stück ihren Landbesitz veräußern, verloren so ihre Freiheit und endeten letztlich im Schuldturm, um die Schuldentilgung zu erzwingen. Mit der Auswahl des Schrifttextes aus Jesaja hat Jesus einen wunden Punkt seiner Gesellschaft angesprochen. Er kündigt damit an, dass sein Auftreten als Messias keine spannungsfreie und harmonische Friedenszeit für die Sklavenhalter, für die Reichen und Satten, sowie für die Großgrundbesitzer einleitet. Sein Programm heißt Gerechtigkeit für die Armen, für jene, die unter's Joch gekommen sind und die durch Unterdrückung gebrochen sind. Seine Sendung schließt aber auch ein, den Blinden wieder das Sehvermögen zu geben, denn in der Antike war Blindheit gleichbedeutend mit Armut und Not. Deshalb sagte ein rabbinischer Text: "Wenn Gott kommt, die Welt zu heilen, heilt er zuerst die Blinden". Mit dem Hinweis auf die Ausrufung eines Gnadenjahres des Herrn, was offensichtlich damals entsprechend der jüdischen Ordnung gerade nicht vorgesehen war, signalisiert er, dass er nicht gewillt ist, mit seinem Einsatz für Gerechtigkeit lange zu warten, sondern noch heute damit anzufangen. Es ist keine Zeit zu verlieren. Die Lage der Schwachen und Schwächsten ist ernst. Genauso ist die Botschaft der von ihm ausgewählten Schriftstelle eine massive Kritik an jenen, die das jüdische Gesetz und die Propheten immer wieder hören und lesen, denn die ungerechten Zustände gibt es immer noch. Mit seinem messianischen Auftreten sollen die alten Regeln für das Zusammenleben seines Volkes wieder in Erinnerung gerufen und in die Tat umgesetzt werden. Unverzüglich. Es war kein beschaulicher Shabbat-Gottesdienst in der Synagoge von Nazaret. Und was Jesus seinen Mitfeiernden damals vorgelesen hat, war Klartext. Und wenn wir heute diesen Evangelienabschnitt lesen, sollte auch für uns alles klar sein: Das Gnadenjahr des Herrn ist und bleibt ausgerufen!