Erfüllte Zeit

28. 03. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Einzug in Jerusalem“

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

„Semana Santa! Ihr seid zur rechten Zeit gekommen“, sagte Pater Angel, unser Reiseleiter auf dem Jakobsweg, „und ihr werdet sie hautnah erleben“. Semana Santa: Touristisch attraktiv und traditionell katholisch. Oder mehr? Wir – eine Gruppe von der Pädagogischen Akademie Wien-Strebersdorf –, wir standen also in León und warteten. Zuerst nur der ferne Trommelschlag, dumpf und rhythmisch. Dann die Blasmusik, schrill und schmetternd. Und schließlich die Prozession, die langsam näher rückte. Ernst zog sie an uns vorbei, streng gegliedert in Bruderschaften. Hoch über ihnen schwankten die Pasos, riesige Holzgerüste mit jeweils einer Szene aus der Passion Jesu. Getragen von vierzig Männern. Im Gleichschritt, auf Kommando. Begleitet wurden sie von den Nazarenos, den Büßern, mit ihren bunten Kutten und typischen Spitzhauben. Einige gingen barfuß, bei fast Null Grad…

 

Semana Santa: Aufbruch ins Mittelalter?! So ein Erlebnis fordert heraus. Ich lechze nach meiner „Quelle Bibel“. Ich sehne mich nach dem klaren Wasser einer Froh-Botschaft, wie sie am heutigen Palmsonntag verkündet wird. Der Evangelist Lukas hat sie von Markus übernommen, fast wortgleich. Eigentlich sind es zwei Geschehnisse, die erzählt werden: Zum einen das Bereitstellen eines Reittieres und zum andern der Einzug in Jerusalem selbst.

 

Diese ganze Szene könnte nach Art der Thronbesteigung von König Salomo gestaltet sein. Er wird nämlich auf das Maultier seines Vaters David gesetzt und ins Kidrontal geleitet, das zwischen dem Ölberg und der Stadt Jerusalem liegt. Dort maschach, salbt ihn der Priester Zadok, man bläst das Schofar, das Widderhorn, und die Leute jubeln ihm zu: “Es lebe König Salomo!“ Dann schildert der Autor überschwänglich den Einzug in die Stadt Davids; im ersten Buch der Könige (1, 40) heißt es: „Nun zog das ganze Volk mit ihm hinauf. Dabei spielten sie auf Flöten und waren voller Freude, so dass bei ihrem Geschrei die Erde zu bersten drohte.“ So wörtlich.

 

Noch deutlicher wird der alttestamentliche Hintergrund aber in der Story vom Esel. Diese Findungslegende greift auf die Schriftrolle eines Propheten zurück, nämlich auf Sacharja; genau genommen auf Deutero-Sacharja. Er sehnt sich nach einer messianischen Gestalt, die endlich schalom bringt, Frieden für alle Nationen. Anders als Israels Ex-Monarchen wird er zadik sein, gerecht, also gott-gerichtet. Sein Handeln wird mit einem einzigen Wort charakterisiert: jascha – er rettet, hilft, erlöst. Aus derselben Wurzel leitet sich ein Eigenname ab: Jeschua – Retter, Erlöser, Befreier. Viele kennen diesen ermutigenden Text und singen seit Kindertagen das „Tochter Zion“, jedes Jahr im Advent. Was Georg Friedrich Händel vertont hat, gehört aber zum heutigen Palmsonntag und lautet im Original beim Propheten Sacharja so: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist arm und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin“ (Sach 9, 9).

 

Der Evangelist Lukas kommt, salopp gesagt, mit einem Esel aus. Ein kurzer synoptischer Seitenblick auf den Einzug Jesu zeigt aber, dass in der Fassung nach Matthäus die Jünger zwei Esel bringen, sicherheitshalber. Denn die Verheißungen der Propheten müssen sich punktgenau erfüllen. Das will ja Matthäus seinen jüdischen Adressaten, die mit tora we nebiim, mit „Gesetz und Propheten“ vertraut sind, immer wieder beweisen. Folgerichtig muss Jesus auf der Eselin und ihrem Füllen reiten…

 

Übrigens, Lukas ist sicher nicht der Namensgeber für den heutigen „Sonntag der Palmen“. Während bei Markus die Leute „Zweige (von Büschen) auf den Feldern abreißen“ (Mk 11, 8), bei Matthäus „Zweige von Bäumen abhauen“ (Mt 21, 8), nehmen sie bei Johannes „Zweige von Palmen“ (Joh 12, 13). Genau genommen von „Dattelpalmen“, denn im griechischen Original steht phoinix. Sprachlich eng verwandt mit dem Vogel Phoenix, der als ein Symbol der Auferstehung galt. Wie die Palme, einst dem Apollon geweiht und auch ein Attribut der Siegesgöttin Nike. Lukas, dessen Version wir heute gehört haben, erwähnt weder Zweig noch Baum. Er lässt Jesu Jünger ihre Kleider auf den Esel legen sowie auf den Weg breiten. Damit soll an ein Ritual für einen neuen König im alten Israel erinnert werden (vgl. 2 Kön 9, 13).

 

„Palmsonntag 2010“: Vom hohen Ross der Macht herabsteigen, die Talare der Moralhüter auf den Boden der Realität legen und – barfüßig und bloß – einander die Lasten des Lebens tragen helfen. Mag sein, dass dann sich nächtlich-graue Starre löst, aufseufzt ein Menschenkind und erst viele Jahre später wieder Stimme findet für ein „Trotz-allem-Hosianna“…