Erfüllte Zeit

11. 04. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Glauben auf Augenhöhe - Die Beauftragung der Jünger“

(Johannes 20, 19 – 31)

 

 

von Helga Kohler-Spiegel, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Fachbereich Humanwissenschaften. Theologin, Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin und (Lehr-)Supervisorin, Feldkirch.

 

 Mit dieser Begegnung endete ursprünglich das Johannesevangelium. Die Jünger haben gerade von Maria Magdalena, der ersten Zeugin der Auferstehung, erfahren, dass Jesus lebt. Doch diese Nachricht hat keine Konsequenzen, die Jünger sind hinter verschlossenen Türen, voll Angst. Sie haben sich verkrochen. Verständlich.

 

Dann geschieht das Unerwartete: Der Gefolterte und Ermordete, Jesus kommt und stellt sich in die Mitte. „Friede“ – sagt er. Am Beginn zur Geburt Jesu singen Engel: Friede den Menschen! Und jetzt wieder – Friede. Diese Hoffnung zieht sich durch die ganze Bibel: Friede, keine Angst. Friede meint ein zufriedenes, ein sicheres, ein erfülltes Leben, Friede umfasst alle Lebewesen, die gesamte Schöpfung. Wir vergessen manchmal: Das Kreuz ist ursprünglich kein religiöses Symbol, sondern ein reales Zeichen für Herrschaft und Gewalt, für Folter und elendes, grausames Sterben. Nach der Ermordung durch die gewalttätige Welt sagt Jesus: Friede – euch, keine Angst. In den sogenannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums, im 16. Kapitel Vers 33 sagt Jesus zu den Jüngerinnen und Jüngern: Jetzt – in der Welt, habt ihr Angst; doch habt Mut… Aber - nach Ostern, in einem österlichen Leben ist uns etwas anderes zugesagt: Friede, keine Angst.

 

Und Jesus zeigt sich, er zeigt seine Wunden. Ich finde es immer wieder ungewohnt, dass sich einer zeigt, dass sich einer kenntlich macht, indem er seine Wunden zeigt. Vielleicht haben Sie jemanden, der Sie an Ihren Wunden erkennt, an dem, was Sie gelitten, was Sie erlitten haben. Ich finde es immer wieder berührend: Er zeigt seine Wunden und gibt sich so zu erkennen. Und die anderen erkennen ihn an seinen Wunden und freuen sich. Komisch – sich an Wunden freuen…

 

Wie am Beginn der Schöpfung Gott dem Menschen den Lebensatem einhauchte, so haucht jetzt Jesus den Jüngerinnen und Jüngern seinen Geist ein, sie sind geschickt, im Geist Jesu zu leben und zu handeln. Und dann dieser Satz: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.“ (V 23) So einfach ist das: Wem wir vergeben, dem ist vergeben. Vermutlich kennen wir das, in der Familie, in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz: Wir sind es, die vergeben, die nachsichtig, die großzügig sind – oder wir sind es nicht. Kein „wenn“, kein „aber“, keine Einschränkung, keine Bedingung, sondern: Im Geist Gottes handeln wir wie Jesus: Wir vergeben – oder wir vergeben nicht. Wir wenden uns einander zu – oder nicht. Wir stärken einander – oder nicht. Wir vergeben – oder wir vergeben nicht. Es liegt an uns.

 

Und dann – Thomas. Das ist die letzte Szene im ursprünglichen Johannesevangelium. Thomas fordert eigene Begegnung. Und es klingt, wie wenn Jesus eigens für Thomas nochmals in ihre Mitte kommt. So wird eine berührende Begegnung möglich. Jetzt ist Thomas beim Namen gerufen, als wären für einen Moment alle anderen rundum vergessen. Jesus fordert Thomas auf, „den Finger in die Wunden zu legen“, den Schmerz und die Verletzung zu spüren. Es ist uns nicht überliefert, was sich dann genau abgespielt hat, es ist uns nicht überliefert, was Thomas genau machte. Thomas hat nicht weggeschaut vor dem Leid und dem Schmerz und der Gewalt, die Jesus angetan wurde. Wir wissen heute, wie schwer es für Menschen ist, die Opfer von Gewalt wurden, ihre Wunden zu zeigen, sie nicht zu verstecken. Und wir erleben gegenwärtig auch, wie schwer es ist, diese Wunden mit auszuhalten, nicht wegzusehen, nicht zu verstummen, sondern den Schmerz und die Scham und die Ohnmacht und die Wut sichtbar zu machen.

 

Wir wissen nicht genau, was sich da zwischen Jesus und Thomas abgespielt hat. Jemanden an seinen Wunden zu berühren, ist ein sehr persönlicher, vermutlich intimer Moment. Als Kinder hat uns die Mutter, wohl auch der Vater oder vielleicht die Großmutter oder ein Geschwister verarztet, sie haben die Wunden gewaschen und versorgt, sie haben unsere Wunden an Körper und Seele gesehen. Oder Sie kennen nur die Sehnsucht danach, dass jemand die Wunden sieht… Es ist als Kind wie als erwachsene Person ein Geschenk, denke ich, einem Menschen so nahe zu sein, dass ich seine oder er meine Wunden berühren darf.

 

Glaube, so sagt uns diese Begegnung zwischen Thomas und Jesus, wurzelt in der Berührung, in der Berührung der Wunden. Vielleicht fällt es uns der Glaube manchmal schwer, weil wir die Wunden nicht berühren wollen – die von anderen Menschen und unsere eigenen. Das Bekenntnis des Thomas wurzelt in dieser Erfahrung. Wenn wir berührt sind, machen wir meist nicht viele Worte. Wenn wir berührt sind, sind wir meist sprachlich karg, wie das Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott“. Aber es ist ein Glaube "auf Augenhöhe" mit dem Leid, es ist ein Glaube, der sich die Finger schmutzig macht und sie in die Wunden legt, ein Glaube, der berührt.