Erfüllte Zeit

02. 05. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das neue Gebot“

(Johannes 13, 31 – 33a. 34 – 35)
von Kaplan Franz Sieder

 

 

Als Betriebsseelsorger möchte ich, anlässlich des gestrigen Tages der Arbeit, versuchen, dieses Evangelium auf dem Hintergrund der Arbeitswelt zu deuten. Jesus sagt uns in seinen Abschiedsreden: So wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Das Maß der Liebe Jesu soll auch das Maß unserer Liebe sein.

 

Die Liebe von Jesus können wir nicht definieren, aber ich möchte zwei Merkmale seiner Liebe benennen: Das erste Merkmal hat er uns bei der Fußwaschung vorexerziert: Es heißt, dem anderen zu dienen – nicht herrschen – nicht den anderen als Objekt gebrauchen, sondern dienen. Das zweite Merkmal finden wir ausgedrückt im Hohelied der Liebe bei Paulus. Er sagt uns, dass bei der wahren Liebe unsere Absicht immer eine ehrliche und aufrichtige sein muss. Paulus sagt: Du kannst vielleicht äußerlich als sozial erscheinen „hättest du aber die Liebe nicht, dann wäre alles umsonst“. Das „hättest du aber die Liebe nicht“ heißt: Geht es dir in deiner Intention nicht wirklich um den Menschen, dann ist das keine Liebe. Der Unternehmer ist noch nicht sozial, weil er hunderten Menschen eine Arbeit gibt. – Die Liebe verlangt, dass es ihm um den Arbeiter – um den Menschen – geht in seiner  Intention und nicht erstrangig um den Profit.

 

Die Intention unseres neoliberalen Wirtschaftssystems ist nicht der Mensch, sondern der Profit und darum ist es nicht von der Liebe geprägt. Es wäre sonst undenkbar, dass in diesem System die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Die Liebe wird nämlich gelebt oder nicht gelebt, nicht nur in der Begegnung der Menschen untereinander, sondern auch in den Strukturen. Es gibt Strukturen der Sünde und es gibt Strukturen der Liebe. Wenn Wirtschaftsstrukturen herrschen, die die soziale Ungleichheit vergrößern und eine wirkliche Gerechtigkeit verhindern, dann sind das Strukturen der Sünde. Wenn Gesetze und gesellschaftliche Strukturen zu einem Teilen mit den Schwächeren der Gesellschaft führen, dann sind das Strukturen der Liebe.

 

Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern gibt es ein eigenes Wort für gelebte Liebe und dieses Wort heißt Solidarität. Solidarität ist mehr als ein gutes Arbeitsklima und gegenseitige Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft am Arbeitsplatz. Solidarität hat für die Arbeiter immer auch Kampf geheißen. Kampf, nicht in dem Sinn, dass mit militärischen Mitteln um etwas gekämpft wird. In einem gewaltlosen Kampf – und das kann auch ein Streik sein – kämpfen die Arbeiterinnen und Arbeiter um ein Mehr an Gerechtigkeit – um menschlichere Arbeitsbedingungen und um gerechte Löhne. Dieser Kampf der Arbeiter geschieht normalerweise durch die Gewerkschaften. Darum sind die Gewerkschaften auch ein wichtiges Instrument, damit das Reich Gottes in der Arbeitswelt wächst. Das Reich Gottes ist das, um was es Jesus letztlich gegangen ist und um was es ihm auch heute geht und es muss immer gesehen werden auf dem Hintergrund der großen Menschheitsfragen nach Gerechtigkeit, nach Frieden – nach einem menschenwürdigen Leben für alle Menschen unserer Erde.

 

Eines der größten Probleme in der momentanen Zeit der Wirtschaftskrise ist der enorme Anstieg von arbeitslosen Menschen. Die Lösung kann nicht nur in einem ständigen Ankurbeln des Wirtschaftswachstums sein – in manchen Branchen ist einfach eine Sättigung da. – Die Lösung kann auch hier nur in der Solidarität bestehen. Im Teilen der Arbeit. Die vorhandene Arbeit soll auf alle aufgeteilt werden. Freilich müssen dann auch alle so viel verdienen, dass sie und ihre Familien gut leben können. Es ist das auch möglich, wenn es zu einer gerechteren Umverteilung von Reich zu Arm kommt. Von Bert Brecht stammt der Satz: „Wärst du nicht reich, wär ich nicht arm.“

 

Solidarität heißt auch Solidarität mit den Fremden. Wahre Liebe hat keine nationalen Schranken. Solidarität heißt auch eine Verantwortung zu haben für die kommenden Generationen. Wir sollen mit den Ressourcen so umgehen, dass auch sie noch gut leben können auf unserer Erde. Es gibt in der Welt Kräfte des Todes und Kräfte des Lebens. Die Kräfte des Todes sind Egoismus, Neid, Fremdenhass und Herrschsucht. Die Kräfte des Lebens sind Gerechtigkeitssinn, Großherzigkeit, Mut zum Kämpfen, Dienen und Bereitschaft zum Verzeihen. Die Welt wird nur gesunden durch die Kräfte des Lebens – durch die gelebte Liebe.