Erfüllte Zeit

06. 06. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

"Furcht und Liebe" (1 Johannes 4, 16b – 21)

Kommentar: Jutta Henner

 

"Gott ist die Liebe"! - das ist das Leitmotiv, das sich gleichsam wie ein roter Faden durch diesen Abschnitt und durch den Hauptteil des ersten Johannesbriefes zieht. Sechs Mal erwähnt der Verfasser das Stichwort "Liebe", sieben Mal spricht er von "lieben".

 

Eigentlich ist es ja kein richtiger Brief wie die anderen uns im Neuen Testament überlieferten Briefe, dieses Schreiben ohne Nennung von Absender oder Empfängern, ohne Einleitung und Grüße. Geheimnisvoll anonym bleibt er, der in den ersten Versen seines Briefes sich gleichsam als "Weggefährte" und Augenzeuge Jesu einführt, den es drängt und treibt, das Gesehene und Gehörte - das Leben, so nennt er es - anderen zu bezeugen und zu verkünden. Hinter der Wahrheit, die er bezeugt, soll seine Person zurücktreten. In ganz ähnlichen Worten und Bildern wie im Evangelium nach Johannes wird hier der christliche Glaube und christliches Leben aus dem Glauben entfaltet. Aufgrund der so großen Nähe in Worten und Inhalt haben bereits die Kirchenväter angenommen, dass der Verfasser des ersten Johannesbriefes mit dem Verfasser des Johannesevangeliums ident sein müsse, dass also ein alter Johannes in Ephesus gegen Ende des ersten Jahrhunderts dieses Schreiben verfasste. Moderne Hypothesen haben versucht, den Verfasser des Briefes in einer Schule des Apostels Johannes zu suchen.

Wer den 1. Johannesbrief wirklich geschrieben hat wissen wir aber nicht. Die Adressaten des Briefes werden jedenfalls von ihm als "meine Kinder" und "Geliebte" angesprochen.

 

"Gott ist die Liebe" - eine schönere, eine treffendere Zusammenfassung des Evangeliums kann es kaum geben! Martin Luther hat es einmal ganz anschaulich formulieret, dass "Gott ein glühender Backofen voller Liebe sei, der von der Erde bis zum Himmel reiche."

 

Dabei wendet sich der Verfasser des ersten Johannesbriefes voll Sorge an seine "geliebten" Geschwister im Glauben - Missverständnisse des Evangeliums hatten sich eingeschlichen mitten in der Gemeinde, hier galt es klar zu stellen, worauf es eigentlich ankommt! Und das gilt bis heute.

 

"Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." Nein, es geht im ersten Johannesbrief ganz und gar nicht um "den lieben Gott", den man einen "guten Mann sein lassen kann." Der Verfasser würde sich auch mit aller Entschiedenheit gegen den Umkehrschluss wehren, dass jedwede Form von Liebe automatisch "göttlich" sei. Es geht vielmehr um die allem ganz und gar zuvorkommende Liebe Gottes "zu uns"! Und diese, so ist es in den unserem Abschnitt vorangehenden Versen nachzulesen, hat sich ein für allemal in der Sendung Jesu Christi in die Welt "zur Versöhnung für unsere Sünden" (V10) erwiesen. Von Gottes Handeln an und für uns in Leben und Sterben Jesu wollen alle weiteren Aussagen gelesen und verstanden sein.

 

Diese Erfahrung der überwältigenden und überströmenden Liebe Gottes hat verwandelnde Kraft: Erfüllt von der Liebe Gottes kann es keinen Raum geben für Angst vor einem richtenden Gott! Der erste Johannesbrief lässt keinen Raum für christliche Drohpredigten! Ja, der Verfasser sagt es ganz klar: Wer Angst hat vor dem richtenden Gott, hat das Evangelium nicht verstanden und angenommen, ist noch nicht in der Liebe.

 

"Gott ist die Liebe". Bei dieser Erkenntnis darf und kann man aber nicht stehen bleiben: Die Erfahrung der Liebe Gottes drängt nur so dazu, diese zu erwidern, diese weiterzugeben. "Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt". Eifrige Liebende zu sein, das zeichnet Christen aus! Gottesliebe ohne sichtbare Nächstenliebe ist bestenfalls fromme Heuchelei. Geschäftige Sozialarbeit, die sich nicht aus der einen und einzigen Quelle, der Liebe Gottes speist, ist blinder Aktivismus.

 

Für Christinnen und Christen damals wie heute ist der erste Johannesbrief in seiner leidenschaftlichen Verkündigung des Evangeliums, aber auch seiner Deutlichkeit eine große Herausforderung. Fehlentwicklungen gilt es zu benennen. Dann mag auch heute und morgen geschehen, was einst in den Anfängen der Kirche den christlichen Glauben so anziehend, so einladend machte: "Seht wie sie einander lieben" - das glaubwürdige Zeugnis von Christinnen und Christen, die getragen von Gottes Liebe bereit waren und sind, auf dem Weg Jesu nachzufolgen, der seinen Jüngern mit auf den Weg gegeben hat: "Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13,34f). Das bewirkt mehr als Worte ohne sie bestätigende Taten, mehr als blinder Aktivismus, dem die eigentliche Motivation fehlt. An Gottes Liebe in Jesus Christus führt kein Weg vorbei.