Erfüllte Zeit

27. 06. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die ungastlichen Samariter und die Nachfolge“ (Lukas 9, 51 – 62)
von Wolfgang Treitler, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

 

 

Manchmal gibt es Lebenslagen, in denen man sehr genau ahnt, welche Stunde einem schlägt. Davon erzählt (heute) an dieser Stelle auch der Evangelist Lukas. Er erzählt von Jesus, der seine Stunde schlagen hört und deshalb keine Zeit mehr hat. Jesus hat keine Zeit, denn er muss nach Jerusalem gehen. Dorthin zieht es ihn. Seine Worte auf dem Weg sind diesmal knapp, in Gleichnissen ergeht er sich nicht. Auch diskutiert er mit niemandem. Nicht einmal eine feste Wohnstatt hat er in diesen Tagen, an keinem Ort wird er lange bleiben.

 

Wie eilig es der Mann aus Nazareth hat, springt erst voll ins Auge, wenn man die erste Lesung, die heute in katholischen Kirchen auf der Leseordnung steht (zum heutigen Sonntag) heranzieht. Wie bei Lukas, so wird auch da erzählt, dass Elijah seinem künftigen Jünger Elischa den Mantel umwirft und ihm damit bedeutet: Komm mit! Doch Elischa bittet noch, sich von seinen Eltern verabschieden zu dürfen. „Geh, aber komm dann zurück! Bedenke, was ich an dir getan habe“, antwortet Elijah auf diese Bitte.

 

Hier hat der Jünger noch Zeit, sich zu verabschieden. Jesus lässt diese Zeit nicht mehr. Ungeheuer sind die Worte, in denen sich diese Eile ausspricht, ungeheuer, weil sie Pflichten verletzen, die zum Kern des Menschen gehören: Man begräbt die toten Eltern, und man verabschiedet sich von den Eltern, wenn man fortzieht. So viel Zeit muss doch sein. Zudem geht es hier um das vierte Gebot – „Ehre deine Eltern!“ Dieses Gebot war und ist im Glauben Jesu und im Glauben ganz Israels zentral.

 

Wenn selbst das nicht mehr gilt – was gilt dann überhaupt noch?

Klagen wie diese sind so alt wie die Religionen. Sie zeigen, dass morgen schon nichts mehr so sein wird, wie es gestern war, einfach weil die Zeit sich ändert. Das macht unsicher. Aber es zeigt auch etwas Aufregendes an: Zu manchen Zeiten werden menschliche Möglichkeiten radikal reduziert. Sie brennen sich gleichsam zusammen auf den einen Punkt, der wirklich wichtig ist. Das sind die knappen Zeiten, in denen man plötzlich vor Gott gestellt wird. Vielleicht ist es auch nur ein einziger Augenblick. Dieser aber bringt auch Veränderungen mit sich, die anders nicht ergriffen und gelebt werden können.

 

Das fordert Mut, das fordert gespannte Aufmerksamkeit für das, was an der Zeit ist. Deshalb ist ein solcher Glaube, der Jesus zur Eile getrieben hat, das Gegenteil von Beruhigung; er ist kein Schlafmittel und kein Narkotikum für Träume aus einer andern Welt, er ist auch keine verschreckte Defensivhaltung, ob sie sich nun furchtsam versteckt oder fundamentalistisch aufbläst.

 

Er ist ein Glaube, der ahnt, welche Stunde ihm geschlagen hat – wohl die Stunde eines entschiedenen Gottesbekenntnisses, das alle, die nicht Gott sind, wieder zu Geschöpfen werden lässt – zu Geschöpfen, die einander nicht unterwerfen, bekriegen und vernichten, um sich gegeneinander ihr falsches Gottsein zu beweisen; nein, vor dem einen Gott sind sie viele Geschöpfe, die miteinander wieder leben lernen auf den Wegen ihres Lebens.

 

Diese Stunde eines solchen Glaubens schlägt heute – eine Stunde, die angesichts zahlloser Konflikte zur Eile mahnt. Vielleicht noch so etwas wie: Aber wie gut, dass Menschen auch zugesagt wird, sich trotz der Dringlichkeit auch bedenken zu dürfen.