Erfüllte Zeit

11. 07. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das Beispiel vom barmherzigen Samariter“ (Lukas 10, 25 – 37)
von Regina Polak

 

 

Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Das war und ist zu allen Zeiten eine brennende Frage. Heute klingt sie vielleicht so: „Was muss ich tun, um ein wirklicher Christ, eine wirkliche Christin zu werden?“ fragen Christinnen und Christen – evangelische, orthodoxe,  katholische.

 

„Wie kann ich Gott erfahren?“, fragen Menschen auf religiöser Suche. „Wie kann mein Leben gelingen?“ „Wie kann ich glücklich werden?“, fragen wahrscheinlich alle Menschen.

 

Wie antwortet Jesus?

1. Du weißt das bereits. Du hast alles zur Verfügung, um deinen Weg zu finden. Lies die Schriften. Setz Dich mit der Tradition auseinander. Das sagt Jesus zunächst einem Gesetzeslehrer, also einem theologisch ausgebildeten Gelehrten. Dieser hat ein Privileg, denn er kennt die Tradition. Jesus traut und mutet ihm zu, selbst angemessene Antworten zu finden. Seine Aufgabe ist es, die Tradition im Heute zeitgerecht auszulegen. Freilich, nicht jeder ist Gesetzesgelehrter. Viele kennen die Tradition nicht. Das gilt auch für viele Menschen heute. Hier ist die Kirche gefragt, Menschen zu ermöglichen, die Tradition so kennenzulernen, dass sie die Frage nach dem ewigen Leben selbst beantworten können. Das ist nicht nur eine Frage der richtigen Lehre, das ist vor allem eine Frage der Lebenspraxis.

 

Im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose des Alten oder Ersten Testaments, gibt es einen Hinweis, dass das zwar eine anspruchsvolle Aufgabe, aber von Gott her möglich ist. Dort ist zu lesen: „Dieses Gebot, auf das ich Dich heute verpflichte, geht nicht über Deine Kraft und es ist nicht fern von Dir. Es ist nicht im Himmel, sodass Du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass Du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei Dir, es ist in Deinem Mund und in Deinem Herzen, Du kannst es halten.“ Es ist möglich, die Frage nach dem guten Leben selbst beantworten zu lernen. Gottes Gesetze können mit dem Herzen erschlossen werden.

 

2. Ist die Frage nach dem ewigen Leben überhaupt ernst gemeint? Jesus reagiert sehr schroff: Er gibt die Verantwortung an den Fragenden zurück. Die Frage des Gesetzeslehrers entstammt nicht der persönlichen Bedrängnis, sie ist eine Prüfungsfrage. Der Gelehrte ist offenkundig überzeugt, die richtige Antwort ohnedies selbst zu kennen. Er will von Jesus nur bestätigt werden. Aber Antwort bekommt nur, wer auch aus echter Bedrängnis fragt. Die Frage nach dem ewigen Leben ist keine akademische, sie ist eine existenzielle Frage.

 

3. Jesus ist, so wie ich ihn verstehe, ein grandioser Lehrer: Er macht sogar aus der hinterhältigen Frage des Prüfers eine Lernsituation für diesen und alle, die zuhören. Freilich nimmt er dabei dem Fragenden das Denken nicht ab. Denn es folgt keine Definition des Nächsten, sondern eine Erzählung, die zum Denken und Handeln anregt.

 

4. Inhaltlich steht im Zentrum der Antwort Jesu das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe – ein Gebot, das sich ebenfalls im Ersten Testament, diesmal im 3. Buch Mose, dem Buch Levitikus findet – als entscheidender Maßstab für ewiges, also gelingendes und erfülltes Leben. Worin unterscheidet sich das Handeln des Leviten und des Priesters von jenem des Samariters? Der Priester sieht – und geht weiter. Der Levit sieht – und geht weiter. Beim Samariter kommt es zu einer Unterbrechung: Er sieht – hat Mitleid – und geht zu dem Überfallenen hin. Mitleid haben bedeutet im Hebräischen und im Griechischen: Es drehte ihm die Eingeweide zusammen. Das heißt: Der Samariter sieht – und lässt sich an Herz und Leib berühren, er fühlt mit. Dieses sich berühren lassen vom Schicksal eines Anderen macht das Handeln zum Glauben. Hier kommt die Liebe ins Spiel. Hinsehen, berührt werden und handeln – so ereignen sich Gottes- und Nächstenliebe.

 

5. Der Samariter ist ein Ausländer, ein Andersgläubiger noch dazu. Auch kommt er aus einem geächteten Gebiet, das man nicht betritt und dessen Einwohner man verachtet. Gerade er realisiert das höchste Gebot – weil er und indem er zum Mitleid fähig ist, weil er liebt, erkennt er den Nächsten und handelt gottgerecht und zeitgerecht. Die Geschichte ist in die Weltliteratur eingegangen. Für den traditionsverankerten Pharisäer eine ziemliche Provokation. (Und) eine bleibende Provokation für gläubige Christinnen und Christen. Eine Anleitung zum Gelingen des Lebens womöglich für alle Menschen.