Erfüllte Zeit

18. 07. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Maria und Marta - Von dem, was drängt“ (Lukas 10, 38 - 42)
von Kurt Appel

 

 

Diese Erzählung handelt von zwei Schwestern, die sich Jesus auf verschiedene Weise nähern: Auf der einen Seite Martha, die Jesus aufopferungsvoll als Gast aufnimmt, auf der anderen Seite Maria, die sein Wort hört. Betrachtet man diese Stelle aufmerksam, so kommt vielleicht zunächst der Gedanke, dass Jesus hier wiederum traditionelle Rollen aufbricht: In diesem Falle die Rolle der Frau als Hausmutter, die zu dienen hat. Und umgekehrt würdigt er in der Gestalt Marias die Rolle der Frau als Schülerin und damit implizit als zukünftige Meisterin und Verkünderin des Wortes. Dies ist sicher ein Aspekt der Geschichte, der entsprechende Beachtung gefunden hat, aber es lohnt sich, näher hinzuhören.

 

Biblische Erzählungen sind immer aus einem größeren Zusammenhang zu betrachten: Nachdem der der Einleitung folgende erste Teil des Lukas-Evangeliums vom Wirken Jesu in Galiläa und Umgebung gehandelt hat, befinde ich mich als Leser in diesem Teil mit Jesus auf dem Weg nach Jerusalem in den finalen Teil seines Lebens. Beim Betrachten der Erzählung ist es ganz wichtig, zu verstehen, dass sich die Zeit für Jesus und seine Anhänger, Freunde (aber auch Gegner) unglaublich beschleunigt. Ich als Leser bin dabei bei den letzten Momenten, in denen eine direkte Begegnung mit Jesus möglich ist. Und was vielleicht noch entscheidender ist: Mit Jesus begegnet Israel, so die Überzeugung des Evangelisten, dem langersehnten Messias, den Gott am Ende der Zeit schickt, um Frieden, Versöhnung, Schuldvergebung und neue Solidarität zu bringen. Und jetzt passiert auf einmal Ungeheures, das so ausgedrückt wird: Blinde sehen wieder, Taube hören, Schuld wird vergeben, sogar Tote stehen auf. Mit dem Messias sind die alten Ordnungen außer Kraft gesetzt und es beginnt eine neue Welt. Für viele Menschen, damals wie heute, vor allem für diejenigen, die sich in den Sicherheiten der alten Ordnungen eingehaust haben, ist das zu viel. Und so verwundert es nicht, dass die Schüler Jesu, die SEINE Ankunft ankündigen und bezeugen, oftmals verjagt, bedroht oder wenigstens verlacht werden, selbst in der eigenen Familie, im eigenen Dorf. Doch manchmal findet sich auch inmitten all der Ablehnung und des Hohnes ein Haus, in dem Jesus und die mit ihm Ziehenden Aufnahme finden. Man sollte dabei erwähnen, dass eine solche Aufnahme durchaus überlebenswichtig war, denn man bekam etwas zu essen, Wasser zum Waschen, einen ungefährdeten Übernachtungsplatz. Man soll also zunächst einmal die Tat von Marta in aller Gebühr würdigen. Sie und ihr Haus – von einem Mann ist hier nicht die Rede – nehmen Jesus, mit dem sie offensichtlich befreundet ist, auf. Und sie bewirtet ihn und die Seinen in all der Gastlichkeit, die im alten Orient im Gegensatz zu unseren ungastlichen Zeiten üblich war. Der Gast ist verletzlich und vielleicht wird es seine letzte Ruhe, seine letzte Labung sein, daher soll sie entsprechend ausfallen. Vielleicht stammt Marta aus kleinen Verhältnissen, denn von Dienern ist hier nicht die Rede, auf alle Fälle ist sie aber überfordert und fordert daher die Schwester ganz folgerichtig dazu auf, ihr zu helfen.

 

Marias Verhalten ist ziemlich eigenartig: Sie nimmt nicht Teil an der Aktion ihrer Schwester, sondern hält inne und hört zu. Dieses Innehalten allerdings hebt ihre „Antwort“ auf Jesus über alle anderen hinaus. In den Szenen, die im Rahmen von Jesu Weg nach Jerusalem erzählt werden und die unserer Stelle vorangehen, ist von Menschen die Rede, die Jesus auf seinem letzten Weg nachfolgen, aber vorher Dinge abschließen und erledigen wollen: Wir hören von solchen, die die neben der Gastfreundschaft heiligste Pflicht in der alten Welt ausüben wollen, nämlich die toten Eltern zu bestatten, von solchen, die sich noch von ihrer Familie verabschieden wollen, bevor sie in die ungewisse Zukunft mit Jesus gehen. Doch für all das ist jetzt keine Zeit mehr: Gastfreundschaft, Totenbestattung, Abschied von den Seinen sind heilige Pflichten, wenn die Ordnungen der Welt ihren gewohnten Gang gehen. Doch jetzt bricht etwas anderes auf: Der Mensch, auf den Gott selbst seine Hoffnungen gesetzt hat, geht den entscheidenden Momenten entgegen. Das Leben läuft nicht mehr wie bisher, denn jetzt bricht eine Begegnung herein, die fortan das Schicksal der Begegnenden und weit darüber hinaus von Israel und der Welt bestimmen wird. Maria ist die Erste und die vielleicht einzige, die den Augenblick in seiner vollen Bedeutung erkannt hat und zu hören vermag. Damit ist sie nicht bloße Schülerin, sondern die Meisterin des Glaubens und zwar eine der ganz großen. Mit Jesus tritt der Gesalbte, also der Messias in das Haus, d.h. in die Geschichte der ihm Begegnenden ein und in dieser Begegnung ist die Zeit auf das höchste beschleunigt und gespannt. Und diese Maria erkennt die Bedeutung des Augenblicks und hört auf die Worte Jesu, Worte, die von nun an testamentarischen Charakter haben. Maria erkennt, dass der verheißene Moment gekommen ist und dass alles andere demgegenüber zurückzutreten hat. Natürlich hätte sie sich ihrer Schwester zugesellen können und etwas später dann zuhören können, aber jetzt ist der Augenblick gekommen, an dem das offenbar werden soll, was, so wie sie es versteht und so wie ich es verstehe, fortan mitentscheidend sein wird für das Wohl der vielen.

 

Ich bin in der scheinbar komfortablen Situation, den Lebensweg Jesu wiederholt lesen, durchdenken, mitgehen zu können, allerdings kann es ja auch mir einmal passieren, von einer dieser Geschichten quasi verschluckt zu werden, sie so nahe kommen zu lassen, dass ich zum Mitspieler eines Geschehens werde, welches mich zu einer unbedingten Entscheidung drängt. Auf alle Fälle kann es auch mir geschehen, vor einer Begegnung zu stehen, die keinen Aufschub duldet, kein Weitermachen in alten Ordnungen, weil in ihr vielleicht der Schlüssel zu einer neuen Welt liegt, gegen die alles Bisherige verblasst und nicht mehr zu berühren vermag.

 

Ein Gedanke, der mich seit der ersten Lektüre dieses Textes nicht mehr loslässt.