Erfüllte Zeit

25. 07. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das Gebet des Herrn“

(Lukas 11, 1 – 13)
von Emmanuel Bauer

 

 

Die Direktheit und Nachdrücklichkeit, mit der Jesus seine Jünger ermutigt, zu bitten, zu suchen und anzuklopfen, erstaunt mich immer wieder und lässt mich innehalten, um über mein Beten nachzudenken. Das Beten ist im Grunde eine sehr einfache Sache. Jede innere Hinwendung zu Gott ist Gebet. Andererseits ist es aber auch etwas sehr Schwieriges, wie ich aus vielen Gesprächen und aus eigener Erfahrung weiß: Es mangelt oft an Zeit, an den richtigen Worten oder schlicht am Vertrauen.

 

Auf jeden Fall ist Beten etwas ganz Wesentliches für mich – und vermutlich für jeden gläubigen Menschen. Ohne Beten gibt es keine lebendige Beziehung zu Gott. Man kann wohl sagen: Ohne Beten kein Glaube. Das Beten ist wie der Atem des Glaubens. Wie ich bete, so glaube ich und so bin und denke ich auch in gewisser Weise. Das Beten ist meines Erachtens der Seismograph meiner Gottesbeziehung. Ist das Beten lebendig, dann auch der Glaube; verlernt der Mensch zu beten, dann vertrocknet früher oder später auch sein Glaube.

 

Diese Erfahrung machten offensichtlich auch die ersten Christen. Denn die Anleitung und Ermutigung zum richtigen Beten, die sich bei Lukas im 11. Kapitel findet, war ursprünglich Teil einer Glaubensunterweisung, wie sie die junge christliche Gemeinde im Blick auf Jesu Tod und Auferstehung praktizierte.

 

Dabei wird Jesus als Beispiel eines betenden Menschen eingeführt. Immer wieder berichtet die Bibel, dass er sich – gerne nachts – in die Weiten der Ebene oder auf die Höhen der Berge zurückzog, um in der Einsamkeit zu beten. Die Jünger spürten, dass die innige Vertrautheit mit seinem Gott, den er mit Vater anredet, für ihn die Kraftquelle dafür war, die alle menschlichen Konventionen sprengende Wirklichkeit des Reiches Gottes erfahrbar machen zu können. Tief beeindruckt von seiner Art zu beten, bitten sie ihn, dass er auch ihnen das Beten beibringe.

 

Das Gebet, das Jesus sie lehrt, zeigt wie in einem Spiegel, welchen Menschen die Jünger vor sich hatten: Einen Mann, der sich getragen weiß von der Liebe Gottes und dem es in seinem Tun und Denken zu allererst darum geht, dass Gottes Name geheiligt und sein Reich unter den Menschen Wirklichkeit werde. Wie ein Kind seinen guten Vater, bittet er Gott um all das, was man für Leib und Seele braucht, um gut leben zu können: Um tägliche Nahrung, um Friede im Herzen und untereinander, um die Kraft, einander zu vergeben und sich mit Gott zu versöhnen. Getragen ist sein Gebet von einem tiefen, irgendwie kindlichen Vertrauen, von der Gewissheit, dass der himmlische Vater ihn trägt und ihm das zukommen lässt, was er braucht. Er muss darin sehr viel Kraft gefunden haben. Deswegen ermutigt er auch seine Jünger "Bittet, sucht, klopft an!" und verspricht "Es wird euch gegeben, ihr werdet finden, es wird euch aufgetan".

 

Doch den Jüngern ging es nicht anders wie so manchem – und auch mir: Diese Art zu beten, vor allem das darin spürbare rückhaltlose Vertrauen, fällt nicht leicht. Zu real ist die Enttäuschung, die sich ob der Diskrepanz zwischen erflehter Hilfe und tatsächlichem Verlauf des Lebens einstellt. Ich weiß von vielen Menschen, die um Rettung aus einer schweren Krankheit beteten und trotzdem von ihr nicht befreit wurden oder um Bewahrung vor Unglück flehten, aber dennoch nicht verschont wurden. Ja, erging es nicht Jesus selbst ganz ähnlich? Er betete im Garten Getsemani inbrünstig darum, dass der Kelch an ihm vorüber gehe, und dennoch haben ihn Leid und Tod in grausamster Weise eingeholt.

 

Der Evangelist hat offensichtlich solche an der Sinnhaftigkeit des Betens zweifelnden und von Gott enttäuschten Menschen vor Augen, wenn er einen Vergleich mit alltäglichen Erfahrungen herstellt. Etwa mit einem Mann, zu dem mitten in der Nacht ein guter Freund kommt, um Brot für einen Gast zu erbitten, und der ihm diese Bitte trotz der späten Stunde nicht abschlagen wird. Oder mit dem Vater, den sein Sohn um einen Fisch oder ein Ei bittet. Wird er so böse sein und ihm statt der Leben spendenden Nahrungsmittel täuschend ähnliche, Tod bringende Tiere geben? Doch sicher nicht!

 

Wenn nun schon jene, die nicht frei von Bosheit sind, ihren Kindern und Freunden geben, worum sie bitten, dann darf der betende Mensch von Gott umso mehr annehmen, dass er ihn nicht hinterhältig täuscht, sondern seine Bitten erfüllt. Ich darf überzeugt sein: "Wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet."

 

Dieses Versprechen wird vielen als einfältig erscheinen. Es klingt wie eine Provokation. Vielleicht quittiert es der eine oder die andere mit einem milden oder traurigen "Schön wär's, aber die Realität schaut anders aus!". Diese Reaktion ist durchaus verständlich. Doch es lohnt sich der Versuch, Jesu Worte über das Beten und Bitten aus einem größeren biblischen Kontext heraus zu deuten. Dann lässt sich deren konstruktive Kraft erahnen.

 

Ich kann z.B. nicht erwarten, dass Gott um meiner Bitte willen die Schöpfungsordnung, d.h. die mit der Endlichkeit verbundene Brüchigkeit menschlicher Existenz, aufhebt. Auch respektiert er die Freiheit des Menschen, sodass er meinetwegen nicht einfach andere Menschen zum Guten zwingen kann, noch dazu, wo ich das Erbetene immer nur aus meiner subjektiven Sicht für gut befinden kann. Und nicht zuletzt gibt es die Erfahrung, dass Gott das Leid, das er nicht abwenden kann, auch zum Guten wenden kann.

 

In diesem Sinn, so scheint mir, werden bei Lukas falsche Erwartungen gedämpft, wenn Jesus betont, dass Gott denen, die vertrauensvoll beten, den Heiligen Geist geben wird. Nun, das ist durchaus nicht wenig: Es ist der Geist Gottes, der die Tiefen des Herzens kennt und die unausgesprochenen, vielleicht auch unaussprechlichen Anliegen vor Gott bringt. Er ist, wie ich mit Paulus glaube, ein Geist, der Kraft, Besonnenheit und Zuversicht gibt – und das schon im Moment des Betens. Das Beten, so meine Erfahrung, verändert das Herz, verändert meine Einstellung zum Problem und meinen Blick in die Zukunft alleine schon dadurch, dass ich bete. Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, wenigstens ein Funken an Vertrauen. Denn dann – ich möchte sagen – nur dann gibt das Beten der oder dem Betenden – noch vor aller äußerlich messbaren Veränderung der objektiven Situation – neuen Mut, um das Gute zu ringen, und die Zuversicht, dass Gott letztlich alles gut macht. Das kann auch die Kraft geben, Unvermeidbares zu tragen. Das Wesentliche beim Beten ist also das Vertrauen. Ich möchte sagen: das Maß des Vertrauens ist das Maß der Kraft meines Betens.