Erfüllte Zeit

01. 08. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Sehnsucht nach voller Gemeinschaft mit Christus“ (Philipper 3, 7 - 11)

                                              

von Gisela Ebmer

 

 

 

„Aber alles, was mir Gewinn war, habe ich dann um Christi willen als Verlust betrachtet. Ja, in der Tat, ich halte das alles für wertlos im Vergleich mit der überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen mir alles wertlos wurde und ich betrachte es als Dreck, wenn ich nur Christus gewinne und in ihm meine Heimat finde. Ich habe nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern jene Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus, die aus Gott kommt aufgrund des Glaubens. Ihn will ich kennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Teilhabe an seinem Leiden, wenn ich gleichgestaltet werde seinem Tod, in der Hoffnung zur Auferstehung von den Toten zu gelangen.“ (Phil. 3, 7-11)

 

 „Ich betrachte es als Dreck“... das sind heftige Worte des Apostel Paulus. Worauf bezieht er sich da eigentlich? „Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin ein Angehöriger des Volkes Israel, aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, was das Gesetz angeht, ein Pharisäer.“ So schreibt er zuvor, er sei in seinem Glaubenseifer perfekt gewesen und in der Einhaltung des Gesetzes ohne Fehl und Tadel. Paulus ist wahrscheinlich in Tarsus aufgewachsen, einer blühenden Hafen- und Handelsstadt am nordöstlichsten Zipfel des Mittelmeers. An der Grenze zwischen Orient und dem Westen. Von hier aus ging es in alle Richtungen der Welt. Er muss wohlhabende Eltern gehabt haben. Denn er besaß das römische Bürgerrecht, was nur wenige Juden hatten und er ging beim berühmten Rabbi Gamaliel in die Schule. Er hatte gute Referenzen nachzuweisen. Und dennoch schreibt er: Ich betrachte es als Dreck, im Vergleich mit der überragenden Erkenntnis Jesu Christi. - Ein gewaltiger Wechsel in seiner Sichtweise muss da bei dem jungen Paulus stattgefunden haben.

 

Der Evangelist Lukas, der auch die Apostelgeschichte verfasst hat, beschreibt die Vision, die er eines Tages gehabt hat, mit sehr eindrücklichen Worten. Er war als eifernder Pharisäer gerade unterwegs nach Damaskus um wiederum Christen zu überführen und der gerechten Strafe zuzuführen, als plötzlich  ein Licht vom Himmel kommt, eine Stimme, alle stürzen zu Boden, Paulus ist blind, wird nach Damaskus geführt, dort von einem Christen geheilt und lässt sich daraufhin taufen. Paulus selber erwähnt nur in einem ganz kurzen Satz, dass ihm Gott eines Tages Jesus Christus gezeigt habe, worauf er sein Leben vollkommen geändert habe.

 

Immer wieder haben Menschen in der Geschichte dazu geneigt, diesen Text aus dem Philipperbrief als Beweis anzuführen, dass das Christentum dem Judentum ja doch weit überlegen sei, wenn sogar Paulus, der ja Jude war, das alte Leben als Dreck bezeichnet. Doch diese Menschen irren: Paulus greift nie in seinen Reden und Briefen das Judentum an: Ganz im Gegenteil: Immer wenn er in neue Städte kommt, ist seine erste Anlaufstelle die Synagoge. Das Bethaus der Juden gibt ihm Schutz, Unterkunft, finanzielle Unterstützung, Diskussionsmöglichkeit. Ja er predigt in der Korinther Synagoge jeden Sabbat. Paulus ist immer Jude geblieben. Von sich selber sagt er: Ich bin allen alles geworden.

 

Wenn Paulus sagt, seine bisherige Sichtweise sei Dreck gewesen, dann meint er nicht sein Leben schlechthin, sondern die bisherige Lebenseinstellung: Eine Einstellung, die darauf aufbaute, möglichst gut zu sein. Möglichst genau alle Gebote und Gesetze einzuhalten. Das hatten ihm wohl seine Eltern und Lehrer gut beigebracht und er war ein talentierter Musterschüler.

 

Das Christentum mit seiner Botschaft, dass alle Menschen gleich viel Wert seien, dass alle Gottes geliebte Kinder sind, auch wenn sie in den Augen der Gesellschaft nicht so okay waren, das schien ihm zunächst sehr verdächtig und dumm. Er war ein Privilegierter, dazu bekannte er sich. Er hatte es sich ja redlich erworben. Jesus Christus war ein Verlierer.

 

Vielleicht ist ihm in seinem Leben irgendetwas passiert, wo er gemerkt hat, so einfach ist es nicht, immer auf der Sieger-Seite zu bleiben. Da gibt es Tiefschläge, Misserfolge, die man selber erlebt oder von denen Freunde betroffen sind. Vielleicht hat er da angefangen nachzudenken. Vielleicht ist ihm dabei auch eingefallen, dass Gott mit der Kreuzigung Jesu gezeigt hat, dass auch das Scheitern zum Leben dazugehört. Und dass Gott auf der Seite der Gescheiterten und Schwachen steht. Alle werden an der Auferstehung Christi teilhaben. Gott liebt alle Menschen gleichermaßen. Wir brauchen uns nicht mehr anstrengen ihm zu gefallen. Denn wir gefallen ihm von Anbeginn an.

 

Da fällt viel Stress weg. Ich muss keine Leistung erbringen um dazu zu gehören. Das alles ist Zwang, macht Druck, führt heute zum Burnout oder zum Herzinfarkt. Es ist Dreck, sagt Paulus. Gib's auf. Das bringt's nicht! Das Leben nach dem Gesetz, damals nach dem jüdischen oder römischen ist wertlos, so wie heute das Leben nach den Gesetzen, die uns gesellschaftliche Normen auferlegen. Ansehen, Macht und Reichtum – er nennt es: „Das Leben nach dem Fleisch“ -  verschaffen keine Sicherheiten. „Ich habe nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern jene Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus, die aus Gott kommt aufgrund des Glaubens.“ Das war die Erkenntnis, die Paulus in seiner Vision zuteil geworden ist.

 

„Macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid“, so schreibt er an die Einwohner der griechischen Stadt Philippi, „einander verbunden in ein und derselben Liebe ... Tut nichts zum eigenen Vorteil, kümmert euch nicht um die Meinung der Leute ... Habt nicht das eigene Wohl im Auge sondern jeder das des anderen.“

Das ist die neue Sicherheit, die Liebe, die er selber von den Einwohnern in Philippi erfahren hat, die ihn unterstützt haben während seiner Gefängnisaufenthalte und Krankheiten. Es ist die Liebe, die durch Gott in Jesus Christus wirkt und Menschen einander weitergeben  können.

Das ist das Einzige was zählt.

 

Paulus ist widersprüchlich. Immer wieder. Erfolgreichster Verbreiter des Christentums, und doch ständig krank, gefangen, verfolgt, schiffbrüchig. Er erleidet am eigenen Körper, was Jesus erlitten hat. Aber er betrachtet es als Gewinn. Als Gewinn gegenüber einem Leben, das auf vermeintlichen Sicherheiten aufgebaut war und dennoch ein Verlustgeschäft ist. Er verwendet ganz bewusst diese Worte aus der Wirtschaftssprache - damals wie heute.

 

Und er stellt uns immer wieder in Frage: Wie sieht der eigentliche Gewinn in unserem Leben aus?